Der Trost der Wolkenfabrik


Michael Chabon - Die Geheimnisse von Pittsburgh



Gestern habe ich „Die Geheimnisse von Pittsburgh“ aus der Hand gelegt und bin immer noch beeindruckt. Der Autor, Michael Chabon, zählt heute zu den Großen der zeitgenössischen amerikanischen Literatur. Sein Roman „Wonder Boys“ wurde mit Michael Douglas, Tobey Maguire und Frances McDormand kongenial verfilmt, für seinen Roman „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay“ erhielt er den Pulitzer-Preis. Sein jüngstes Werk „Sommerland“ hat das Zeug zum (allerdings sehr amerikanischen) Beststeller.

Als sein Erstling „The Mysteries Of Pittsburgh“ 1988 erschien, war Chabon ein Niemand, ein 23jähriger Absolvent der Pittsburgher Carnegie-Mellon-Universität. Der Roman basiert auf Chabons Abschlußarbeit im Studiengang „Creative Writing“. Er wurde ein Sensationserfolg.


Das Personal


Die Handlung ist eigentlich banal: Der junge Art Bechstein verbringt nach seinem Uni-Abschluß einen Sommer in Pittsburgh. Es soll noch einmal eine Zeit des unbeschwerten Umherstreifens und der Lust am Leben werden, ehe der Ernst genau dieses Lebens beginnt.

Daß schließlich die ernsten Seiten des Erwachsenwerdens früher als erwartet sein Leben bestimmen, hat Art vor allem den Personen zu verdanken, denen er vertraut, die er liebt und schätzt.

Durch Zufall lernt er seinen Namensvetter Arthur Lecomte kennen, der zur Schlüsselfigur für die nächsten Monate und sein weiteres Leben wird. Arthur macht ihn mit einer Welt bekannt, die dem etwas naiven und behütet aufgewachsenen Art fremd ist - es scheint die Welt der „jeunesse dorée“ zu sein, in der unbeschwert prunkvolle Parties gefeiert werden, in der man ohne Sorgen um die Zukunft im offenen Wagen durch die nächtlichen Straßen gleitet, in der man Wochenenden faulenzend im Strandhaus verbringt.

Art trifft Jane, die gemäßigt flippige Tochter aus gutem Hause, etwas später ihren Freund Cleveland, den Draufgänger, und schließlich Phlox, eine Bibliothekshelferin, die sich schon seit einiger Zeit in Art verguckt hat und die auf sanfte Weise abgedreht ist.

Auf der anderen Seite steht Arts Vater, ein hohes Tier im organisierten Verbrechen, Finanzverwalter einer der Ostküsten-„Familien“. Er ist darauf bedacht, daß Art einen seriösen Beruf ergreift, nicht mit dem Gangstermilieu in Berührung kommt und zielstrebig seinen Weg findet. Arts Sommerpläne („Ich erwarte einen Sommer voll vertrödelter Mußestunden und spärlich bekleideter Frauen“) sind ihm deshalb auch ein wenig suspekt, doch er läßt seinen Sohn gewähren. Arts Mutter ist vor Jahren unter recht unklaren Umständen ums Leben gekommen.


Verwicklungen


Art verliebt sich in Phlox. Phlox liebt Art. Er geht einem Ferienjob bei einem Buch-Discounter nach, sie arbeitet in der Universitätsbibliothek. Sie führen ein erfülltes Liebesleben, und das könnte in einer idyllischen Zweisamkeit aufgehen.

Wenn da nicht Arthur wäre. Auch zu ihm fühlt Art sich hingezogen, und zwar mit sehr gemischten Gefühlen. Er wäre vordergründig wohl einfach gerne Arthurs Freund auf einer ganz kumpelhaften Männerfreundschaftsebene. Das geht nicht: Zum einen ist Arthur schwul und zeigt das Art gegenüber sozusagen als offenes Angebot. Zum anderen stellt Art fest, daß er sich nicht nur im Rahmen freundschaftlicher Sympathie zu Arthur hingezogen fühlt. Die Sache wird nicht einfacher dadurch, daß Phlox und Arthur sich auf den Tod nicht ausstehen können.

Das Ganze kumuliert in einer Szene, in der Art sowohl mit Arthur-Jane-Cleveland um die Häuser ziehen als auch mit Phlox einen netten Abend verbringen möchte. Phlox verlangt von ihm, sich für eins zu entscheiden, Arthur verlangt das gleiche. Art trifft eine halbherzige Entscheidung und steht anschließend erst einmal alleine da.

Der Kumpel, den Art sich wünscht, ist überraschenderweise Cleveland. Cleveland packt die Dinge ohne Rücksicht auf Konventionen an, gibt gute Ratschläge aus einer gewissen Lebensklugheit heraus, schubst Art ein wenig voran. Doch zugleich wird Cleveland mit seinem eigenen Leben nicht fertig. Er liebt Jane, aber Jane schreckt davor zurück, sich wirklich an ihn zu binden. Wo Art und Phlox sich eine Kuschelbeziehung bauen, streiten Jane und Cleveland sich wie ein altes Ehepaar. Cleveland ist zudem Alkoholiker und bestreitet seinen Lebensunterhalt mit zwielichtigen Aktivitäten. Er ist Arts Freund, eine echte Gegenseitigkeit kann sich jedoch nicht entwickeln.

Als wäre dies alles nicht genug, wird Art auch immer wieder mit den Ansprüchen und Erwartungen seines Vaters konfrontiert, von denen er sich überfordert fühlt. Zwischen beiden herrscht eine angespannte Sprachlosigkeit, die sich immer dann breit macht, wenn ihre Gespräche den Bereich oberflächlicher Allerweltsthemen verlassen und den Kern ihrer Beziehung streifen: Den Tod der Mutter beziehungsweise Frau haben beide nicht verwunden. Arts Vater reagiert dann mit Wut und Vorwürfen, denen Art emotional nicht gewachsen ist.

Welche Wirrungen und Handlungsfäden sich aus diesem ganzen unordentlichen Gefühlsgebäude entwickeln, möchte ich hier nicht vorwegnehmen - es lohnt sich, den Roman selbst zu erkunden.


Ein ruhender Pol


Das Symbol für Beständigkeit und Verläßlichkeit im Roman ist ein Gebäude - die „Wolkenfabrik“. Sie liegt in einer Talsenke im Pittsburgher Stadtteil Oakland, die im Roman die „vergessene Gegend“ („lost neighborhood“) genannt wird. Ein altes Farbrikgebäude, von dem die Romanfiguren nur wissen, daß aus den hohen Schornsteinen mit exakter Regelmäßigkeit perfekte weiße Wolken dringen. Die Wolkenfabrik ist der Punkt, zu dem Cleveland immer wieder zurückkehrt (er gibt ihr auch diesen Namen). Ein Aussichtspunkt mit Blick auf die Wolkenfabrik ist auch der Zufluchtsort für Arthur und Art. Und die Wolkenfabrik ist es schließlich auch, die den Roman tatsächlich in Pittsburgh verankert - im Prinzip könnte er abgesehen von ein wenig Lokalkolorit in jeder Universitätsstadt der östlichen USA spielen.

Die Wolkenfabrik ist statisch und doch produktiv. Ihr Produkt bleibt im Unklaren - die Protagonisten stellen Mutmaßungen darüber an, begnügen sich aber letztlich mit ihrer offenbar tröstlichen und zugleich geheimnisvollen äußeren Erscheinung. So bleibt die Wolkenfabrik ein kaum hinterfragtes Zeichen der Kontinuität mitten im emotionalen Durcheinander, das in den handelnden Personen herrscht.

Interessanterweise wird seit dem Erscheinen des Romans das Gebäude von den Einwohnern und Studenten Pittsburghs nicht selten „cloud factory“ genannt. Teils mit direktem Bezug auf das Buch, teils auch unabhängig davon. Der Name leuchtet eben unmittelbar ein. Der im Zusammenhang mit diesem Begriff immer wieder auch von Pittsburghern genannte Bezug auf Chabons Roman läßt in jedem Fall darauf schließen, daß der Name vor dessen Erscheinen nicht gebräuchlich war.

Ganz profan handelt es sich dabei übrigens um die „Bellefield Boiler Plant“, ein Heizkraftwerk, das große Teile der Universitätsgebäude der Carnegie-Mellon mit Wärme versorgt und in der Senke unterhalb des Carnegie-Instituts liegt.


Sexualität als Parabel


Um den Roman zu verstehen, wird man ihn auch auf einer abstrahierenden Ebene wahrnehmen und analysieren müssen. Ich will damit nicht sagen, daß man ihn verstehen muß, um ihn wunderbar zu finden, aber man kann hier noch auf eine weitere Entdeckungsreise gehen.

Eine der Fragen, die von Anfang an im Zusammenhang mit der Rezeption des Romans auchtauchten, war die nach der Rolle der Beziehung zwischen Art und Arthur. In einem Chat der New York Times wurde einmal verwundert gefragt, warum der Autor den Ich-Erzähler Art eine sexuelle Beziehung mit Arthur eingehen läßt, obwohl der Autor doch vollkommen glaubhaft versicherte, daß er selbst „straight“ sei.

Nun, es spricht zwar einiges dafür, daß Chabon seinen Helden Art als sein alter ego angelegt hat, trotzdem sind Autor und Ich-Erzähler natürlich nicht automatisch identisch. Und meiner Ansicht nach kann die Beziehung Arts zu Arthur nur im Wechselspiel seiner Beziehung zu Phlox gesehen werden - dann erscheint sie erst richtig einleuchtend.

Schauen wir uns einmal die jeweils ersten „Bettszenen“ mit Phlox und Arthur an:

[Phlox]
„Du trägst Opium“, sagte ich.
Sie setzte sich neben mich und schmiegte sich mit dem Gesicht an meinen Hals.
„Ganz schön clever. Kennst dich sogar mit Parfüms aus“, sagte sie und biß mich.
„Ran an den Speck!“ Ich zog sie auf die Chenilledecke und sog den Geruch nach Seife und Opium an ihrem Hals ein, wo ihr Puls sichtbar klopfte.


[Arthur]
Es tat verdammt weh, und das Öl fühlte sich kalt und eigenartig an, aber als er sagte, er sei fertig, wollte ich nicht, daß er aufhörte; ich bat ihn weiterzumachen, und er tat sein Möglichstes, doch dann fing ich an zu weinen. Er hielt mich in den Armen, ich hörte auf zu weinen, wir lachten über ein Geräusch, das ich, wie er sagte, von mir gegeben hatte, und unsere Gesichter waren wenige Zentimeter auseinander, als er plötzlich die Augen aufriß, sich aufrichtete und dann wieder zurücklehnte, um mich genauer zu betrachten. „Du blutest aus der Nase“, sagte er.


Mit Phlox läuft die Sache unaufgeregt und vertraut, wird en passant und ohne großes Aufheben berichtet. Sex mit Phlox ergibt sich selbstverständlich und eher beiläufig - er paßt in Arts gewohntes Leben. Die Schilderung der Arthur-Szene dagegen ist atemlos, von widersprüchlichen Gefühlen bestimmt, neu, schmerzhaft und verletzend, aufwühlend, verändernd und verstörend.

So wie das eine den meisten Lesern vertraut und das andere ihnen fremd sein dürfte, so ist auch die Funktion der jeweiligen Beziehungen angelegt: Der Umbruch, der in Arts Leben stattfindet, wird symbolisiert von den beiden Liebesverhältnissen. Für das gewohnte und vertraute Dasein in Geborgenheit steht Phlox, für das Reich unbekannter Erfahrungen voller Gefahren und möglicher Verletzungen, aber auch voller Glücksversprechen steht Arthur. Der Roman ist beileibe keine „coming out“-Geschichte, sondern eine „coming of age“-Erzählung. Die hier gezeigten Pole der Sexualität sind vom Autor sehr geschickt als Sinnbilder persönlicher Umwälzung gewählt.

Und diese Umwälzung bekommt Art zu spüren. Einen kurzen, schwebenden Moment lang versucht er zwischen beidem die Balance zu halten, versucht ins alte Leben zurückzukehren und trotzdem das neue nicht aufzugeben:

Ich wunderte mich, daß ich reden konnte. Ich wandte mich an Arthur und sagte: „Arthur, ich liebe Phlox.“
Ich wandte mich an Phlox. „Phlox“, sagte ich, „ich liebe Arthur. Wir müssen lernen, miteinander auszukommen. Wir können es schaffen.“
„Red keinen Scheiß“, sagte Phlox. Ihre Zähne blitzten.
„Sie hat recht“, sagte Arthur.


Art bleibt letztlich nichts anderes übrig, als sich für das neue Leben, also die Veränderung und persönliche Fortentwicklung zu entscheiden. Trotz halbherziger Versuche und des bleibenden Angebots von Phlox verläßt er sein altes Leben und wagt den Aufbruch ins Unbekannte. So wie es auch Arthur und Cleveland tun. Nur Jane bleibt im vertrauten Einflußbereich ihrer Eltern, und an einer Stelle heißt es scherzhaft-derb, aber folgerichtig: „Jane ist tot.“


Die Freundschaft


Inmitten aller Veränderungen und Entwicklung ist die Suche nach beständiger Freundschaft ein bestimmender und wichtiger Topos des Romans. Art sucht eine Freundschaft, die nichts fordert und keine Bedingungen stellt, die nicht verpflichtet, sondern Halt gibt. Arts Vater kann ihm das nicht bieten - ihre Welten sind zu verschieden und fallen immer weiter auseinander. Phlox ist besitzergreifend und braucht selbst zuviel Halt. Sie kann Liebe geben, aber keine Freundschaft. Arthur ist zu unbeständig und ungefestigt. Er kann ebenfalls Liebe geben, aber keine Sicherheit. Jane wirkt auf Art sehr attraktiv, doch er respektiert ihre Bindung an Cleveland.

Der einzige, zu dem so etwas wie ein freundschaftliches Band entsteht, ist (wie erwähnt) schließlich Cleveland. Er versteht Art ohne große Worte, er gibt ihm hin und wieder einen Anstoß, ohne ihn zu drängen, er ist tolerant und verständnisvoll. Fatal an der Sache ist, daß Art im Grunde zu unsicher und hilflos ist, um Cleveland das gleiche bieten zu können. Als es darauf ankommt, versagt Art fast zwangsläufig.

Letztlich ist es wohl das Thema der Freundschaft, das mich an dem Roman am meisten berührt und nachhaltig beeindruckt hat. Genauer: die darin beschriebene, im wesentlichen vergebliche Suche nach Freundschaft. Jede der Personen bleibt eigentlich mit sich allein und muß sich ganz für sich in der Welt zurechtfinden.

Und das ist dann wohl auch der Punkt, an dem der Autor sich mit dem Ich-Erzähler identifiziert und in dem er sich mit vielen seiner Altersgenossen einig wußte: Irgendwann im Leben steht man an einem Wendepunkt, muß sich entscheiden, ins kalte Wasser springen und ohne Hilfe einen Schritt vorwärts gehen. Und dieser eine Schritt kann unglaublich schmerzhaft und schwer sein, weil man sich dafür von vielem losreißen muß. Und weil man ihn nicht gehen kann, ohne zu allem Überfluß auch noch die Verantwortung für sich und sein Leben zu schultern.

Sicher gelingt das in den meisten Fällen, und auch Chabons zweites Buch „Wonder Boys“ zeigt, daß der Autor nun ähnliche Konstellationen aus einer weit optimistischeren Perspektive sieht. Aus der Rückschau relativieren sich eben viele Probleme, stehen auch im verklärenden Licht der Nostalgie da, und aus der offenen Trennungswunde wird eine unauffällige Narbe. Doch wenn man ein Buch wie dieses liest, schmerzt sie wie eine alte Kriegsverletzung beim Wetterumschwung.

Und man fühlt einen spontanen Impuls, Art einmal aufmunternd den Arm um die Schultern zu legen, Arthur ein wenig am Ohr zu ziehen, Phlox zu drücken und Jane zu etwas mehr Mut zu ermuntern. Und Cleveland ... tja, mit Cleveland ist das so eine Sache ...


Fazit


Ich bin eigentlich ganz froh, daß ich den Roman nicht in dem Alter gelesen habe, in dem sich seine Protagonisten befinden. Vielleicht hätte es mich entmutigt, mir Sorgen gemacht oder - im schlimmsten Fall - mich kalt gelassen. Vielleicht hole ich es in ein paar Jahren noch einmal hervor, wenn meine Kinder in diesem Alter sind. Ich habe den Eindruck, daß dann beispielsweise Arts Vater ein heilsames Gegenbild zum Wünschbaren abgeben könnte.

Abgesehen davon kann ich das Buch nur dringend empfehlen. Chabon hat darin noch nicht ganz zu seinem späteren Witz gefunden und schreibt stellenweise stilistisch reichlich ungeschliffen, zufällig und sprunghaft. Dafür wirkt das Buch um so authentischer und glaubwürdiger. Und es ist mit erstaunlich viel Herz geschrieben. Und häufig auch mit erfreulich ironischer Distanz und sympathischer Lakonie. Dafür mag der Schlußsatz des Romans ein Beispiel geben:

„Zweifellos entspringt dies alles nicht wahren Erinnerungen, sondern ist das verderbliche Werk der Nostalgie, die die Vergangenheit verwischt, und zweifellos habe ich wie gewöhnlich alles übertrieben.“