Unterwegs mit Grady Tripp


Michael Chabon - Wonder Boys



Wenn mir ein Buch besonders gut gefallen hat, dann neige ich dazu, das komplette Werk des Autors zu lesen. Bei Michael Chabon habe dies auch getan, allerdings war der Weg dorthin ein wenig anders.

Es begann mit einer Verfilmung. Anfang des Jahres kam „Wonder Boys“ mit Michael Douglas und Toby Maguire im Fernsehen. Ich hatte die erste Dreiviertelstunde verpaßt, mich dann aber mit dem Rest bestens amüsiert. Der nächste Weg führte mich auf der Suche nach der DVD zu Ebay. Und dort stieß ich auf die Romanvorlage und den Autor Michael Chabon, der mir bis dahin völlig unbekannt war. Ein Schnäppchenkauf brachte mir seinen relativ jungen Roman „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay“ ins Haus, dann folgten der zwischen Jerome Salinger und Denton Welsh irrlichternde Erstling „Die Geheimnisse von Pittsburgh“, die beiden Storysammlungen „Ocean Avenue“ und „Junge Werwölfe“, das Jugendbuch „Sommerland“ - und schließlich „Wonder Boys“.

Ich hatte Chabon kreuz und quer und von hinten nach vorne aufgerollt und war schließlich bei seinem nach meiner Meinung (bislang) besten Roman gelandet. Vor der Lektüre habe ich mir noch einmal den kompletten Film auf DVD angesehen - sicher ein Wagnis bei einer Romanverfilmung, doch in diesem Fall kein Fehler.


Worum geht‘s?


Hauptfigur und Ich-Erzähler ist der Pittsburgher Schriftsteller und Dozent Grady Tripp. Er ist die meiste Zeit stoned und arbeitet besessen an seinem vierten Roman „Wonder Boys“, der den Erfolg seiner Vorgänger fortsetzen, ja in den Schatten stellen soll. Wie es das Unglück will, dauert die Arbeit am Manuskript bereits sieben Jahre, und aus den geplanten wenigen hundert Seiten sind gut 2600 geworden - dabei ist gerade einmal des erste Drittel fertig. Das Buchprojekt gerät mehr und mehr aus den Fugen, ebenso wie Gradys Existenz.

Ein einziges Wochenende gibt dem Leben des Autors und dem einiger weiterer Figuren eine neue Wendung. Dabei ist die Situation äußerst vertrackt: In Pittsburgh findet das jährliche WordFest statt, ein Kongreß von Schriftstellern, Nachwuchsautoren, Dozenten und Lektoren. Zum WordFest hat sich Gradys alter Freund und Lektor Terry Crabtree angesagt. Er möchte endlich das Manuskript sehen, von dem ihm Grady seit Jahren erzählt, daß es kurz vor der Vollendung stehe.

Diese Klippe hätte Grady wohl noch routiniert umschiffen können. Schwerer wiegt da schon die Tatsache, daß ihn seine Frau just verlassen hat und seine Geliebte, Sara Gaskell, ihm eröffnet, daß sie schwanger sei. Vertrackterweise ist sie die Rektorin der Universität, und ihr Gatte Walter ist Gradys unmittelbarer Vorgesetzter.

Nun gut, Probleme sind dazu da, gelöst zu werden. Doch da ist noch jemand, der Probleme hat und dessen Schwierigkeiten geeignet sind, den hilfsbereiten Grady vollends auf eine ganz schön abschüssige Bahn zu schubsen: Der begabte, aber recht verschrobene Student James Leer kann alle Schauspieler auswendig daherbeten, die ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt haben. Und er ist gerade dabei, ihrem Beispiel zu folgen, als Grady ihn während der Eröffnungsparty des WordFest im Garten der Gaskells so eben noch davon abhalten kann.

James Leer bringt Gradys so hübsch indifferent eingerichtetes Leben aus dem Takt. Er erschießt den neurotischen Hund der Gaskells, klaut das wertvollste Stück aus Walters Sammlung von Baseball-Memorabilien, verdreht dem auf Frischfleisch erpichten Crabtree den Kopf und erweist sich als ebenso gewiefter wie hartnäckiger Lügner.

Das ist der Stoff, aus dem Albträume geschmiedet werden, doch Chabon macht daraus eine stellenweise unglaublich temporeiche, immer witzige und exakt beobachtende Satire, die sich auf einen kathartischen Höhepunkt hin entwickelt.


Die Schriftstellerei


Eines der zentralen Themen des Buches handelt davon, wie man als Schriftsteller und als Mitwirkender im Literaturbetrieb überleben kann. Das ist offensichtlich nicht so einfach: Chabons Protagonisten sind nahezu allesamt in der einen oder anderen Richtung verbogene Existenzen.

Gleich zu Beginn schildert er aus Gradys Rückschau den Horrorautor August van Zorn, der in seiner Besessenheit Lovecrafts manischem Geiger Erich Zann so ähnlich ist, daß er durchaus als Hommage an den Gruselmeister gelten kann. Van Zorn begegnet dem Leser im Roman noch an einigen weiteren Stellen. Er leidet wie Grady Tripp an der Mitternachtskrankheit - Tripps Begriff für die zeitvergessene nächtliche Schreibwut, die den Schriftsteller vorantreibt, statt von ihm zielgerichtet eingesetzt zu werden. Van Zorn ist ohne Rücksicht auf sein Lebensglück unglaublich produktiv. Seine knapp umrissene Lebensgeschichte ist quasi der alternative Schluß des Romans - das mahnende Beispiel dafür, was Grady Tripp widerfahren könnte, wenn er nicht rechtzeitig das Ruder herumreißt.

Interessant in diesem Zusammenhang: Unter dem Pseudonym August van Zorn veröffentlichte Chabon selbst eine klassische Horrorgeschichte im Stil des reifen H.P. Lovecraft - in einer deutschen Übersetzung ist sie in seiner Sammlung „Junge Werwölfe“ zu finden. In „Wonder Boys“ findet Tripp sie zufällig in James Leers Zimmer („Die Greuel von Plunkettsville“).

Auch Walter Gaskell hadert mit der Schriftstellerei. Er arbeitet schon etliche Zeit an einem Buch über die ideale amerikanische Ehe - wohl wissend, daß seine eigene Ehe nicht gerade ideal verläuft. An dem Punkt, an dem sie endgültig zerbricht, erhält er die Zusage für die Veröffentlichung des Buches.

James Leer ist erst dabei, sich als Nachwuchs-Schriftsteller zu etablieren. Aber er bringt die besten Voraussetzungen mit, dies mit der gebotenen Verkorkstheit anzupacken. Er erfindet sein eigenes Leben immer wieder abhängig von seinen literarischen Produktionen, ist dabei flexibel und reaktionsschnell, so daß selten auszumachen ist, welche seiner Behauptungen nun der Wahrheit entsprechen und welche nicht. Er besitzt keine greifbare Vergangenheit und faßt in der Gegenwart nicht Fuß.

Grady Tripp benutzt die Schriftstellerei als Flucht vor dem Leben. Er weiß längst nicht mehr, was sein Roman aussagen oder bewirken soll, aber er arbeitet verbissen daran. An einer Stelle erwähnt er, daß ihm ein Zustand wie der der „Schreibblockade“ vollkommen fremd sei. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Unter dem Einfluß seines geliebten Marijuanas gerät er ins wahl- und ziellose Fabulieren - er schreibt, aber es dient keinem Zweck mehr. Er tritt also ebenso auf der Stelle wie wenn er gar nichts schreiben könnte.

Und schließlich Michael Chabon, der Autor selbst. Nachdem er mit 24 Jahren seinen Erstling „Die Geheimnisse von Pittsburgh“ überaus erfolgreich auf den Markt gebracht hatte, arbeitete er fünf Jahre lang an einem epischen Werk namens „Fountain City“. Nach gut 1500 Seiten begrub er das Projekt, als er feststellen mußte, daß die Arbeit daran geradewegs ins Nirwana führte. Anschließend schrieb er in wenigen Monaten „Wonder Boys“. Ein Beleg dafür, daß auch jahrelange ergebnislose Arbeit nicht vergeblich sein muß.


Buchstaben und bewegte Bilder


An dieser Stelle wäre es angebracht, die Verfilmung des Romans anzusprechen. Sie ergänzt das Buch sehr schön. So ist der Schluß des Films beispielsweise deutlich näher am autobiographischen Gehalt des Stoffes als es das Buch sein konnte. Zudem faßt sie in einer sehr eingänglichen Bildsprache das äußere Geschehen des Buches zusammen, ohne es in seinem Kern umzudeuten oder zu beschneiden.

Umgekehrt liefert das Buch etliches an Hintergrundinformationen und Motivationselementen, die der Film einfach nicht zeigen kann. Dazu gehört unter anderem die Episode, in der Grady Tripp bei seinen (in naher Zukunft: Ex-)Schwiegereltern das Passahfest feiert. Im Film fehlt dieser Handlungsabschnitt völlig, was in einer ganzen Reihe von Szenen zu Änderungen führte, die aber wieder in sich absolut schlüssig sind. Im Buch dient er der Motivation und dem besseren Verständnis der Hauptfigur.

Ich habe es als Glücksfall empfunden, daß ich zuerst den Film gesehen und dann das Buch gelesen habe. Es gab zu keinem Zeitpunkt dieses bei Romanverfilmungen nicht seltene Unbehagen über eine irgendwie „falsche“ Optik, die im Widerspruch zum imaginären Bild steht, das man von den Figuren gewonnen hat.

Obwohl diese Widersprüche durchaus vorhanden sind. Frances McDormand etwa, zierlich und dunkelhaarig, entspricht so gar nicht der blonden, eher stämmigen Sara Gaskell des Romans. Aber sie bringt sie im Wesen ideal auf die Leinwand. Auch Robert Downey wirkt weit weniger exaltiert und flippig, als er im Buch geschildert wird. Doch er sagt genau die richtigen Worte mit der richtigen Miene an der richtigen Stelle. Michael Douglas wiederum ist äußerlich schon näher an Grady Tripp. Bei ihm habe ich den Eindruck, daß er den Roman ebenso gründlich gelesen hat wie das Drehbuch - und daß er ihm gefallen hat. Und Toby Maguire ist einfach perfekt besetzt. Wo es beispielsweise in „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ noch arg nervte, daß er offenbar Robert DeNiros drei bis fünf Gesichtsausdrücke exakt kopiert hat und darüber hinaus wenig wandlungsfähig ist, paßt diese gewollte oder ungewollte mimische Sparsamkeit exakt zum mild verhaltensgestörten James Leer.


Das Buch als Buch


Doch zurück zum Roman. Michael Chabon ist eine wirklich komische, oft im Slapstick-Tempo sich entwickelnde Geschichte gelungen, die von ihren nachdenklichen Momenten nicht gebremst, sondern geschickt motiviert wird. Dort, wo der Autor seine eigene Biographie ins Spiel bringt, kommt sie mit gelassener Ironie zum Vorschein. So verrückt die Story auch ist, so folgerichtig wirkt sie.

Das liegt sicher auch daran, daß es dem Autor aus eigener Erfahrung mit seinem Thema ernst ist. Wo er Klamauk bringt, hat der seinen dramaturgischen Zweck. Und wo er liebevolle Detailschilderungen präsentiert, zeigt er damit ein gewisses poetisches Potential (im englischen Originaltext wird dies noch deutlicher als in der durchaus sehr gelungenen Übersetzung). Und der selbstironische Plauderton, in dem Grady Tripp die Geschichte erzählt, ist immer angenehm zu lesen.

Natürlich hat die Sache auch handwerkliche Haken und Ösen. Zu den verzeihlichen zählt dabei, das Chabon dem VW Käfer von Gradys Frau Emily einen Zweitaktmotor andichtet (er besitzt natürlich einen luftgekühlten Boxermotor). Daß die Hauptperson, ein Akademiker (graduate), der ständig unter Dope steht, ausgerechnet Grady Tripp heißen muß ... nun, Schwamm drüber. Welcher Teufel allerdings Chabon geritten hat, als er James Leers alter Dame ausgerechnet den Vornamen Amanda verpaßt hat, ist mir ein Rätsel. Aber vielleicht hat diese Albernheit ja einen inneren Sinn, der mir verborgen blieb.

Das sind allerdings Petitessen im Vergleich zur dargebotenen Fabulierkunst. Chabon zeigt innerhalb der ausgesprochen unterhaltsamen Handlung immer wieder, wie das Erfinden von Geschichten funktionieren kann und welche Fallstricke dabei lauern. Die Szene etwa, in der Tripp, Crabtree und Leer in einer Kneipe einem Unbekannten von ferne eine reichlich schräge Lebensgeschichte andichten, wobei sie sich locker die Bälle zuspielen, ist schon recht typisch für den Vorgang, der mit Assoziieren, Korrigieren, Verwerfen und Neukombinieren zu einer imaginären Figur führen kann. Als der auf diese Weise konstruierte „Vernon Hardapple“ sich später so verhält, wie man es anhand seiner fiktiven Lebensgeschichte erwarten könnte, zeigt dies bildhaft, daß der Autor von seinen Protagonisten durchaus auch wieder selbst beeinflußt und getrieben werden kann.

Recht deutlich macht Chabon auch an etlichen Stellen, daß man zumindest an einem Punkt fest im Hier und Jetzt verankert sein sollte, wenn man seine Phantasie produktiv werden lassen möchte: Grady braucht die handfest zupackende Sara - letztlich sogar im wörtlichsten Sinne. James Leer benötigt einen Fixpunkt, als der sich Crabtree zu erweisen scheint (im Film, nicht im Buch, sagt Crabtree an einer Stelle sehr treffend: „Der Junge braucht einen guten Lektor.“).

Damit zusammenhängen dürfte die Erkenntnis, daß die Schriftstellerei nicht nur als Berufung, sondern auch als produzierendes Gewerbe zu verstehen ist, das ein ordentliches Maß an Handwerk und Selbstdisziplin verlangt. Der heillos in seinem Roman verzettelte Grady Tripp hat genau dies aus den Augen verloren. Übrigens hat Chabon in seinen späteren Werken demonstriert, daß er selbst nicht ganz frei davon ist. In „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay“ verliert er sich stellenweise derart in der Aufzählung von Comicreihen und -autoren des „Golden Age“, daß man mit Gradys Untermieterin Hannah ganz vorsichtig anmerken möchte: „... aber es ist so ... so ausführlich ...“ Und seiner Baseball-Versessenheit, die er in den „Wonder Boys“ in der Figur Walter Gaskells anklingen läßt, räumt er in „Sommerland“ schon reichlich viel Raum ein. Für Chabon ist offenbar die Mitternachtskrankheit auch ein vertrauter Zustand.


Wie dem auch sei ...


Ehe ich mich hier in weiteren Analysen und Interpretationen verstricke (wozu es, etwa in Emilys oder James‘ Familien, im Schriftstellerkollegen Q. oder in Hannah sehr fruchtbare Ansatzpunkte gäbe), empfehle ich lieber: Kaufen und lesen! Und den Film anschauen! Beides garantiert vergnügliche und unterhaltsame Stunden, um es einmal etwas abgegriffen zu formulieren. Man muß sich dazu zwar auf die Mischung aus Tiefsinn, Unernst, Sarkasmus und Drastik einlassen, aber das lohnt sich allemal.

Wer die Tiefen des Buches nicht ausloten möchte, findet zumindest einigen Stoff zum Lachen - und das ist doch auch schon etwas wert.