In Youth is Pleasure


10 Dinge, die mich an die 70er Jahre erinnern



Dieser Text entstand im Rahmen eines Schreibwettbewerbs auf der Verbraucher-Plattform ciao.de - seinerzeit gab es dort eine recht rege Fraktion, die die offene Struktur der Site fürs Texten über Gott und die Welt nutzte, statt brav den Marktforschungsauftrage der Betreiber zu erfüllen. So kamen dann auch Aktionen wie die plattforminternen Wettbewerbe zustande.

Die 70er waren ein erstaunliches Jahrzehnt: Schreiend bunte Kleidung und psychedelische Tapeten sorgten für Augenkrätze, die Protagonisten der RAF - damals hieß sie noch „Bader-Meinhof-Bande“ - grüßten von Fahndungsplakaten in den Postämtern und die Leute glaubten mehrheitlich, in der Zeitung stünde die Wahrheit. Alles in allem eine scheußliche Zeit. Trotzdem vergoldet der nostalgische Rückblick auch die düsteren Kapitel der Menschheit, und wer wie ich vom achten bis zum achtzehnten Lebensjahr diese Zeit erfahren hat, ist davon stärker geprägt, als ihm zuweilen lieb ist. Und manchmal merkt man erst Jahre später, welche Erfahrungen und Erinnerungen nachwirken und daß vieles davon zum Guten nachwirkt. Ich weiß nicht, wer als erster auf die Idee gekommen ist, Jahrzehnte nach ihrer Dezimalstelle zusammenzufassen. Er lag vollkommen falsch. Jede Zeit entwickelt sich dynamisch, und so waren die frühen 70er nichts anderes als die späten 60er, und die späten 70er gingen naht- und bruchlos in die frühen 80er über. Das spielt allerdings hier keine Rolle, und es gibt eine Menge Dinge, die auch ich in meiner Erinnerung als typisch für die 70er lokalisiere, so unsinnig das eigentlich ist.


Das Fernsehen


Das TV-Programm spielt in nahezu allen ciao-Texten über die 70er eine große Rolle. Das hat durchaus seine Berechtigung: In den 70er Jahren gewannen die Medien allgemein eine größere Bedeutung, mehr und mehr Kinder wurden vor dem Fernseher sozialisiert, etliche Formate und Sendemuster etablierten sich damals, die heute zum zwingenden Grundbestand vor allem der öffentlich-rechtlichen Sender zu zählen scheinen.

Zunächst wurden Kinder mit den Überresten der heilen Welt aus dem Amerika der 50er und 60er Jahre traktiert. Allerlei Tiere tummelten sich auf dem Bildschirm: Lassie, Flipper, Fury, Skippy oder Black Beauty. Abenteurer wie „Arpad der Zigeuner“ wurden von den Mädchen angehimmelt, ich fieberte mit den Piraten im „Wappen von St. Malo“. Doch regten sich zugleich emanzipatorische Kräfte in den Kinderredaktionen und bescherten der staunenden Zuschauerschar kurzlebige Kinderladen-Unterhaltung wie das in vielerlei Hinsicht „Feuerrote Spielmobil“, die teils lächerlich agitatorische „Rappelkiste“ oder den „Kli- Kla- Klawitterbus“. Nie gesehen? Herzlichen Glückwunsch!

Viel fernsehen durfte ich als Kind ohnehin nicht. Obwohl mich die Sache außerordentlich faszinierte - vor allem nachdem der alte Schwarzweißkasten von Nordmende gegen einen Farbfernseher von Grundig ausgetauscht werden mußte. Die Kiste hatte tatsächlich Sensortasten! Damals ein technisches Wunder. Und satte 24 Programmplätze. Wozu die wohl gut sein konnten? Es gab mit ARD, ZDF und WDR drei Programme, später konnte man noch SWF empfangen und noch später kamen bei uns mit BRT und RTBF zwei belgische Sender hinzu. Vormittags gab es entweder pädagogisch wertvollen Schulfunk oder ein Testbild. Am späten Abend war Sendeschluß, anschließend konnte man wieder das Testbild bewundern.

Im Laufe der Zeit wurde das Kinderfernsehen für mich uninteressant. Ich verlegte mich auf Wissenschaftssendungen und Tierdokumentationen - die durfte ich nämlich auch sehen, wenn sie nach 19 Uhr liefen. Unvergessen ist etwa Hoimar von Ditfurth mit seiner Seemannskrause, dessen Tochter später die Grünen mitbegründete. Er dozierte in seiner Sendung „Querschnitt“ altväterlich über die Fortschritte der Forschung und wurde dabei von seinem Adlatus Volker Arzt unterstützt, der wiederum seinen Meister bis hin zur Haar- und Barttracht penibel nachahmte. Dieses Phänomen, das mich seinerzeit sehr amüsierte, habe ich erst Jahre später wiedererlebt: Noch heute schafft es Rangar Yogeshwar nicht, die mühsam erlernte Gestik und Sprechweise von Jean Pütz abzulegen.

Die 70er Jahre waren auch die Zeit der großen Samstagabend-Show. Die ganze Familie versammelte sich vor dem Bildschirm, um den „Großen Preis“ zu verfolgen, mit den Kandidaten um die Wette zu raten und die Peinlichkeiten zu bestaunen, die der stets unbeholfene Wim Thoelke mit den Trickfiguren Wum und Wendelin trieb. Wenn es Argumente braucht, die Mär vom öffentlich-rechtlichen Qualitätsfernsehen zu relativieren - diese Show zählt sicher dazu.

Richtig interessant wurden später politische Sendungen. Und da ausgerechnet das „ZDF Magazin“ mit Gerhard Löwenthal. Ich muß zugeben, daß ich in meiner Jugend konservativ bis in die Knochen war. Diese bärbeißige Großvaterfigur mit der knurrenden Stimme und den dräuenden Warnungen vor dem Untergang des Abendlandes imponierte mir ungemein. Ohne zu ahnen, daß auf der anderen Seite von Schnitzler im „Schwarzen Kanal“ als propagandistisches Gegenstück operierte, fand ich es eindrucksvoll, mit welcher Unbeirrbarkeit Löwenthal die Fahne der Freiheit hochhielt. Heute weiß ich, daß er sich zu dieser Zeit schon auf dem absteigenden Ast befand und daß meine Begeisterung für das Konservative ebenfalls im Schwinden begriffen war. Glücklicherweise.


Politik


Heute werden die politischen Verhältnisse der 70er häufig und nicht zu Unrecht mit dem Terror der RAF assoziiert. Ich und viele meiner Altersgenossen bekamen davon wenig mit. Natürlich gab es Nachrichten über Kaufhausanschläge, über Attentate und Entführungen, doch dies war irgendwie ganz weit weg. Zwar bedrohlich und auch abenteuerlich, doch durch die Mattscheibe von der Realität getrennt. Erwachsene und ältere Jugendliche haben das sicher ganz anders empfunden.

Viel näher war die Sozialdemokratisierung der Gesellschaft (eine Entwicklung, die dann später ab 1982 von der Union brav fortgeführt wurde). In der Schule, also meinem unmittelbaren Erfahrungsraum, brachte sie die Hufeisenform, die (ganz und gar nicht ergebnisoffene) Diskussion über Halbjahresnoten und einen Schülersprecher, dessen wallendes Haupthaar und dessen Bartlänge doch sehr an die Zeiten erinnerte, in denen der HErr noch auf Erden wandelte.

Zeitgleich wurden Wahlkämpfe geführt, bei denen wir an den Ständen der Parteien gerne Kugelschreiber, Skatspiele und Luftballons erbeuteten. Worum es ging, wurde mir zu Beginn der 70er noch nicht richtig klar. Auf der einen Seite hieß es „Willy wählen!”, auf der anderen Seite hieß es „Wähl den politischen Frühling!” - und dazu gab es von der CDU Aufkleber, die wie die Unionsvariante der etwa zeitgleich verbreiteten Pril-Blumen wirkten. Es half nichts, Willy wurde gewählt. Warum, das wußte ich nicht, nur daß es meinen Eltern nicht gefiel.

Später war Schmidt Kanzler. Den fand ich ganz sympathisch. Und bis heute ist mir der Seufzer meiner Mutter im Ohr, die bedauerte, daß dieser durch und durch fähige Mann für die falsche Partei regierte.

Mit der Zeit begriff ich mehr von Politik, bis mich gegen Ende der 70er die Union gegen sich einnahm, indem sie sich immer stärker auf Franz-Josef Strauß als Kanzlerkandidaten einstellte. Mit Strauß’ Niederlage begannen die 80er.


Modeerscheinungen


Eine Zeitlang schien in den 70ern das Farbsehempfinden verloren gegangen zu sein. Es war straflos möglich, ein leuchtend orangefarbenes Hemd zu einem giftgrünen Strickpullunder und einer violetten Breitcordhose zu tragen. Lange Jahre danach hätte das die einstweilige Erschießung durch die Geschmackspolizei zur Folge gehabt, aber damals schien es ganz selbstverständlich. Heute schleichen sich derlei Unsitten zusammen mit Schlaghosen, bauchnabelfreien Tops und grellen Plastikmöbeln als Retro-Stil wieder in die Alltagskultur, aber das wird glücklicherweise eine kurzlebige Sache bleiben - wer das alles einmal mehrere Jahre lang ansehen durfte, der hat definitiv genug davon.

Was ich bisher nicht wieder entdecken konnte, sind Knautschlack und Bundeswehrparka. Ein oder zwei Jahre lang waren brave Kinder in eine Art kunststoffbeschichtete Anoraks gekleidet (bei C&A gab es eine große Auswahl davon), die immer ein wenig zerknautscht und zerknittert aussahen. Die weniger braven und meist auch etwas älteren liefen lange Zeit in Nato-Grün umher, waren aber gleichzeitig meist wild entschlossen, den geliebten Parka niemals in seiner angestammten Funktion als Uniformteil zu tragen. Ein bißchen schizophren, aber was ist am Verhalten Pubertierender schon logisch? Die Erwachsenen trugen eine nicht weniger maßlose Farbenpracht zur Schau wie die Jugend. Von den Herren gerne in Form breiter Krawatten, von den Damen als ohmachterzeugendes Dekor auf Blusen und Röcken. Dazu gab es getürmte und blondierte Frisuren zu sehen, die heute nur noch Countrysängerinnen aus dem amerikanischen Hinterland oder Kleinstadt-Transvestiten vorzuführen wagen. Gerne kombiniert mit leuchtend blauem Lidschatten und voluminösem Modeschmuck.

Bereits Ende der 60er und dann weiter Anfang der 70er wurden in der Männerwelt die Haare länger, man begann auch wieder Bart zu tragen: Kennzeichen der Hippiekultur fanden mit der üblichen Verzögerung ihren Weg in die Friseurläden. Haare hatten zumindest annähernd schulterlang zu sein - heutzutage als modisch geltende Kurzhaarfrisuren hätten damals restlos reaktionär gewirkt. Unter Jugendlichen wurde deshalb zuweilen mit wohligem Gruseln über den Zwang zum radikalen Haarschnitt gemunkelt, der einen bei der Bundeswehr erwartete - als ich später hinging, waren freigeschnittene Ohren jedoch schon wieder halbwegs gesellschaftsfähig.

Was ich nicht erlebt habe, war irgendein Gruppenzwang, der mich auf bestimmte Marken festgelegt hätte. Das ist wohl eine Entwicklung späterer Zeiten. In der einzigen Episode, die annähernd in diese Richtung ging, fragte mich ein Mitschüler einmal ziemlich aggressiv, warum ich in einer „Hochwasser“-Hose herumliefe. ich habe ihn gefragt, ob er nichts anderes im Kopf hätte. Hatte er nicht, aber er gab das Thema trotzdem auf.


Pubertät und Sex


Ein Thema, mit dem man im zweiten Lebensjahrzehnt zwangsläufig konfrontiert wird. Ich auch. Und wie war das damals bei mir? Tja, das geht euch nun wirklich nichts an - aber es erinnert mich an die 70er. Eine in jeder Hinsicht interessante Dekade.


Radio


In die späten 70er Jahre fiel meine Zeit als Radio-Moderator. Ein Junge aus der Nachbarschaft betrieb einen kleinen Piratensender, der regelmäßig am Wochenende seinen Betrieb aufnahm. Durch Beziehungen wußten wir, wann im örtlichen Fernmeldeamt (so hieß das damals) die Rolläden heruntergelassen wurden. Das war unsere Zeit.

Über eine unterm Dachfirst montierte UKW-Antenne versorgten wir eine handverlesene Hörerschar im Umkreis von etwa 10 km. Zwei saßen im improvisierten Studio, einer hockte nebenan vor einem alten Röhrenempfänger, um zu überprüfen, ob die selbstgebastelte und reichlich instabile Sende-Elektronik nicht wieder einmal von der eingestellten Frequenz abwich und einen der WDR-Sender zu stören drohte. Dann mußte nachjustiert werden - wenn wir bei einem Blick aus dem Fenster den grauen Funkmeßwagen auf der Straße gesehen hätten, wäre es vermutlich schon zu spät gewesen. Wir machten Musiksendungen, nahmen Jingles auf, beantworteten Hörerfragen und hatten eine Menge Spaß dabei. Es war eine seltsame Mischung aus öffentlich-rechtlicher Seriosität und krawalligem Formatradio. Immer verbunden mit dem Reiz des Verbotenen und einer spätpubertären Freibeuter-Mentalität.

Als nach Monaten absehbar wurde, daß das alles immer ein Spiel bleiben würde, als bei unseren Call-in-Formaten immer noch sämtliche Hörerfragen fingiert werden mußten, stieg ich bei der Sache aus. Eine interessante Erfahrung war es allemal.


Lesestoff


Schon seit ich die ersten Buchstaben entziffern konnte, war ich süchtig nach Büchern. Als ich aufs Gymnasium kam, steigerte sich das noch einmal beträchtlich - denn ab diesem Zeitpunkt führte mich mein Schulweg täglich an einer Filiale der Stadtbücherei vorbei. Ich las, was mir vor die Augen kam. Querbeet durch die Bibliotheksregale. Ich vermute, daß ich später nie mehr so viel gelesen habe wie in diesem Jahrzehnt. Meist war es Belletristik, oft auch Sachliteratur, selten Gedichte. Zu den ausgeliehenen Büchern kamen mehr und mehr selbst gekaufte, dazu noch Geschenke und die Schullektüre.

Als Schüler hat man viel Zeit, doch diese Zeit war mir zu schade dafür, auf einem Bolzplatz einen Ball herumzukicken oder Hausaufgaben zu machen (schließlich hatten uns die Lehrer ohnehin schon alles im Unterricht erzählt - wozu noch einmal das gleiche ins Heft schreiben?). Ein vernünftiges Buch, möglichst unterhaltsam, nicht zu platt und nicht zu verblasen - das war‘s! Irgendwann schoß ich mich auf Science Fiction ein und hortete etliche hundert Taschenbücher aus diesem Genre. Robert Heinlein, Philip Dick, John Brunner, Wilson Tucker und Alfred Bester begleiteten mich über Jahre. Aufgegeben habe ich die SF erst Mitte der 80er, als ich für eine einschlägige Taschenbuchreihe freiberuflich Übersetzungen redigierte. Die professionelle Beschäftigung mit der Science Fiction hat mir die Freude daran verleidet - so geht es manchmal.

Den grundsätzlichen Spaß am Lesen kann mir jedoch nichts verleiden. Der steckt wohl für alle Zeiten in meinem Kopf.


Baustellen


Wir wohnten in einem Neubaugebiet, das Mitte der 60er erschlossen worden war. Da meine Eltern zu den ersten gehört hatten, die in unserer Straße bauten, gab es in der Umgebung über Jahre hinweg immer brachliegende Grundstücke - und vor allem Häuser, die sich im Rohbau befanden. Uns Kindern war es aus guten Gründen strengstens verboten, auf Baustellen zu spielen. Aus unserer Sicht sprachen ebenso gute Gründe dafür, dieses Verbot zu mißachten. In jedem Rohbau lockten Gefahren: behelfsmäßige Innentreppen mit wackligen Lattengeländern, Keller, in denen Wasser stand, aus Decken ragende Armierungseisen, Haufen von Baumaterial und Erdaushub. Zuweilen wurden wir von Nachbarn oder Bauarbeitern beim Spielen erwischt und bangten dann vor der Konfrontation mit unseren Eltern. Manchmal suchten wir auf dem Grundstück nach vergrabenen Bierflaschen, für die wir uns im nahen Lebensmittelgeschäft das Pfand abholten und gleich in Süßigkeiten umsetzten.

Über allem lag der Geruch von frischem Zement, gelöschtem Kalk und zuweilen das markante Aroma von heißem Teer. Auf den leeren Grundstücken gingen wir auf Tierfang, zündeten Feuer an, brieten Kartoffeln, „rauchten“ hohle trockene Pflanzenstengel. Das Spielen im Neubaugebiet war das reine Abenteuer. Nach dem ersten Drittel des Jahrzehnts war die Bebauung nahezu geschlossen, die Ära ging ihrem Ende zu. Ich bedaure alle Kinder, die diese Freiheit des Verbotenen nie kennenlernen - obwohl ich bei unseren zwei Söhnen wohl tausend Ängste ausstehen würde, wenn sie sich auf Expeditionen wie unsere eigenen damals machen würden.


Die Eifel


Ja, auch eine Landschaft gehört zum festen Erinnerungsrepertoire „meiner“ 70er Jahre. Meine Eltern waren und sind begeisterte Wanderer. Das war ich nie. Mir wollte es nicht einleuchten, daß man im Zeitalter der Eisenbahnen und Autos „einfach so“ längere Wege zu Fuß zurücklegen sollte.

Mit der Familie ging es oft in die Eifel. Mal für eine Tagestour, mal für ein Wochenende. Viele Male. Ich war widerwillig dabei. Und doch: Wenn ich heute an diese rauhe, windige Landschaft denke, ans Aufsammeln herabgefallener Äpfel, an die Abkürzungen querfeldein über Wiesen, auf denen man einen respektvollen Abstand von grasenden Kühen hielt, an Irr- und Umwege auf schlecht markierten Wanderrouten, an manchen überraschenden Ausblick von den kargen Mittelgebirgshöhen auf die Kraterseen der Vulkaneifel, dann rührt das in mir etwas an. Und es sagt mir, daß man zuweilen zu seinem Glück gezwungen werden kann. Es ist nicht nur Nostalgie, die ich beim Gedanken an die Eifel spüre, sondern ich liebe diese Landschaft heute und fühle mich darin jedesmal schnell zu Hause, obwohl ich nur sehr selten dort bin.


Straßenbahnen


Wir wohnten im Kölner Umland, aber ich ging in Köln aufs Gymnasium. Den Schulweg legte ich mit der Straßenbahn zurück. Täglich einmal hin, einmal zurück, und wenn es nachmittags Veranstaltungen oder Arbeitsgemeinschaften gab, dann auch mehrfach. Zu Beginn meiner Zeit als Straßenbahnpassagier gab es in Köln nur wenige Kilometer U-Bahn. Die Strecken führten in den Außenbezirken durch Felder, Waldgebiete oder sauber voneinander abgegrenzte Vororte. Je tiefer man ins Stadtgebiet eindrang, desto häufiger fuhr die Bahn tatsächlich inmitten des umgebenden Verkehrs über die Straßen. Separate, von den Autospuren abgegrenzte Gleiskörper gab es kaum. Entsprechend rauh waren Verhalten und Umgangston der Fahrer.

Straßenbahnfahrer waren für uns Schüler lange Zeit Respektspersonen. Ich habe sie bewundert und hätte mir gut vorstellen können, diesen Beruf zu ergreifen. Zumindest solange ich mir kein Gedanken zu Schichtdienst, Verkehrsstreß und im Verhältnis dazu kärglicher Bezahlung machte. Ich beobachtete gerne genau, wie der Fahrer die Bahn bediente. Nach einiger Zeit kannte ich jeden Handgriff und jeden Schalter im Führerstand - die Fahrer saßen damals noch nicht in einer abgeschlossenen Kabine, sondern in einer seitlich offenen Nische aus der heraus sie auch Fahrkarten verkauften. Damals fragten wir gerne nach den leeren Abreißblöckchen dieser Fahrkarten, denn wenn man eine der beiden Heftklammern entfernte, ließen sich daraus sehr haltbare Daumenkinos machen. Als Führerstandkiebitze waren Schüler sicher lästig. Ärgerlich wurden sie, wenn sie in der Bahn Unsinn trieben. Und das taten wir. Sehr beliebt war eine Zeitlang das „Kurbeln“: Am Ende der Bahn wurde die Liniennummer angezeigt, seitlich die befahrene Strecke. Mit einer kleinen Kurbel konnte man diese Anzeigen nach Herzenslust verstellen. Das wurde ungern gesehen und hatte hin und wieder auch schon mal einen Rausschmiß aus der Bahn zur Folge. irgendwann hatte dieser Sport wohl überhand genommen, so daß in allen Bahnen die Kurbeln entfernt wurden. Wir hatten allerdings schnell herausgefunden, daß es auch ein normaler Vierkantschlüssel tat - und das wiederum führte dazu, daß manche Eisenwarenhändler keine Vierkante der Größe 8 mehr an Schüler verkauften.

Im Rückblick kann ich sagen, daß auch das ganz banale Straßenbahnfahren zu den Abenteuern meiner Kindheit gehörte. Ich bin heute noch in gewissem Maß von Schienenfahrzeugen fasziniert - auch wenn ich mich nie den engagierten Bahnfans verbunden fühlte, die vom Betriebspersonal gerne abwertend als „Pufferküsser“ bezeichnet werden.


Musik


Der letzte Punkt gäbe (wie einige der vorangehenden) genug Stoff für einen eigenen Text, und da ich beim Schreiben zur Ausführlichkeit neige, werde ich mich hier bremsen müssen.

Was die verschiedenen Genres betrifft, war ich in meiner Jugend vollkommen offen, um nicht zu sagen wahllos (mal abgesehen von deutschen Schlagern und Volksmusik, die mich wegen ihrer musikalischen Dürftigkeit immer abgestoßen haben). Meine in jener Zeit zusammengekauften Schallplattenbestände sehen entsprechend aus: Schöne, geradeaus gespielte Rockmusik von Deep Purple, ELP, Santana, Queen oder auch Iron Butterfly steht neben sinfonischer Musik vorzugsweise der Romantik, elaboriertem Folk von Flairck und Alain Stivell, Chopin- und Bach-Aufnahmen von Horowitz und einer Menge Jazz von Erroll Garner, Oscar Peterson, Eugen Cicero und dem Modern Jazz Quartet. Sogar die Perfektion gut arrangierter Tanzmusik, etwa von Kuhn, Jankowski, Kaempfert oder Schulz-Reichel, konnte mich faszinieren.

In den meisten (nicht allen) Fällen war es mir wichtig, daß Tasteninstrumente eine Rolle spielten. Ich habe jahrelang Klavierunterricht erhalten, in der Anfangsphase widerwillig, später mit immer mehr Spaß an der Sache. Seitdem kann ich einem gut gespielten Klavier, Keyboard oder einer Hammond nicht widerstehen - ganz gleich in welchem musikalischen Zusammenhang. Ich nehme an, das geht vielen Menschen so, die ein Instrument erlernt haben: Man weiß einfach mehr zu schätzen, was ein Virtuose da abliefert. Kurzum: In den 70ern wurde der Grundstein für meine Liebe zur Musik gelegt, und ich bin allen dankbar, die mich damals auf die eine oder andere Weise dazu getrieben haben.


Fazit


Die 70er Jahre waren die Zeit, die in vielerlei Hinsicht mein Leben, meine Weltsicht und meine Vorlieben in bestimmte Richtungen gelenkt haben. Manches vom damals Erlebten war schwer erträglich, manches war ein Geschenk, manches Zufall. Alles jedoch trage ich bis heute in mir, und zuweilen kommen die Spätwirkungen jener Zeit auf eine Weise zum Vorschein, die mich selbst erstaunt. Ich möchte diese Zeit um keinen Preis noch einmal erleben, aber ich bin froh, daß ich sie erlebt habe.