Ach, Silje, mußte das nun sein?


Silje Nergaard - Nightwatch



Liebe Silje,

es fällt mir nicht leicht, Dir diesen Brief zu schreiben. Ich muß es trotzdem tun, denn ich habe mir jetzt eine weitere von Deinen CDs gekauft. Sie heißt „Nightwatch“. Ja, natürlich, Du kennst sie ja. Deshalb schreibe ich Dir. Ich bin gar nicht glücklich damit. Überhaupt nicht. Warum? Warte, ich erklär's Dir gleich.

Wie Du weißt, besitze ich seit einiger Zeit schon Deine CD „At First Light“". Als ich sie zum ersten Mal gehört habe, habe ich mich gleich in Deine Stimme verliebt. So richtig Knall auf Fall verliebt. In diesen Momenten, wenn Du so beiläufig den Wechsel von Dur nach Moll zur Kenntnis nimmst, wenn Du einen Einsatz ganz leicht verzögerst, als wenn Du nicht sicher wärst, ob Du diesen wunderschönen Ton nun wirklich singen darfst, wenn Du erst mit ganz viel Luft singst und dann plötzlich den Druck erhöhst, um eine Note so hart und klar zu bringen, daß sie mir durch und durch geht. Und Deine Begleitmusiker. Die müssen Dich sehr mögen, vor allem der am Rhodes-Piano. Ach, Silje, ich hätte manchmal vor Freude weinen können. Ja, ich weiß, ich kann schon eine alte Heulsuse sein.

Aber jetzt, jetzt habe ich eben „Nightwatch“ gekauft. Ich habe mich sehr auf die CD gefreut. Aber sie hat mir das Herz gebrochen. Du hast mir das Herz gebrochen.

Du hättest mir gleich sagen sollen, daß ich Dir gleichgültig bin. Daß die Zeit schön war, die wir miteinander verbrachten, daß sie aber nun vorbei ist und Du das nicht ändern kannst. Daß Du jung bist und das Geld brauchst. Oder irgend etwas in der Art. Ich hätte das verstanden und mich an dem gefreut, was ich schon habe. Wie eine Erinnerung, die mir niemand nehmen kann.

Ich weiß nicht, ob Du verstehen kannst, daß mir Gesang eigentlich selten gefällt. Früher habe ich dazu „Musik mit Geschrei“ gesagt. Ich weiß, Ilka hat mir schon geschrieben, daß sie diese Einstellung nicht gut findet. Und sie hat ja irgendwie auch recht. Ach was, als ich Deine Stimme hörte, wußte ich, daß sie in jeder Hinsicht recht hat.

Ich gerate ins Schwatzen. Dabei wollte ich Dir doch etwas zu „Nightwatch“ schreiben. Aber es ist so schwer, einen Abschiedsbrief zu schreiben. Jetzt wird auch noch meine Tastatur naß. Nein, nicht, was Du jetzt denken könntest; ich habe nur etwas Kaffee verschüttet. Weil meine Hand so zittert.


Nun, ohne langes Drumherumreden, es muß ja schließlich sein. Als ich die ersten Töne hörte, habe ich mich noch gefreut. Du singst da „How Am I Supposed To See The Stars“. Deine Stimme, ja, da war sie wieder. Und so wunderschön. Dann ein wenig Klavier. Und ein zurückhaltendes Schlagzeug, was ja nicht selbstverständlich ist. Aber dann packten sich plötzlich irgendwelche Streicher über die Musik. So als hätte der Produzent gemeint, man müsse dem breiten Publikum doch deutlicher klar machen, daß das ein trauriges, stimmungsvolles Stück sei. Ich bin aber nicht das breite Publikum. Den Produzenten habe ich da gehaßt.

Dann singst Du „Once I Held A Moon“. Bist Du jetzt mit Stan Getz befreundet? So mit Gitarre und Saxophon und diesem ganzen Kaffeewerbungs-Bossa-Nova? Ja, kann ganz nett sein. Aber Du singst das so nebenbei. Und nachher dann auch noch mit so ärgerlich aufgedubbten 60er-Jahre-Background-Vocals. Im Ernst, das ist doch blöder Mainstream, oder?

Bei „Dance Me Love“ war ich dann erst wieder ein wenig versöhnt. Sicher, das Schlagzeug mit seinem Besen-Gestreiche und -Gepatsche wirkt ein bißchen sehr nach angestrengter Barmusik-Attitüde. Aber das Klavier spielt sehr schön dazu, findet zarte, gebrochene Harmonien. Und Deine Stimme! Grandios. Aber dann kommt wieder dieser Streichermatsch obendrauf, und sogar einen Trompeter hat der Produzent eingekauft. Der Mann ist nicht gut für Dich, Silje. Ich sage Dir das im Guten.

Erschrocken bin ich bei „You Send Me Flowers“. Du triffst da erst mal einige Töne nicht richtig. Früher haben Dir doch schnelle Folgen unterschiedlicher Intervalle keine Probleme gemacht. Silje, brauchst Du Hilfe? Sag's ruhig, ich würde immer noch alles für Dich tun, ich geb's ja zu. Und hier wieder ganz blöde Background-Vocals. Warum nur? Fühlst Du Dich alleine nicht mehr sicher? Nochmal: Brauchst Du Hilfe? Diese künstliche Munterkeit bei dem Stück hat mich nachdenklich gemacht.

Mit „I Don't Want To See You Cry“ hast Du mich nicht gemeint, das wurde mir gleich klar. Ich war nämlich nahe dran. Vor Wut. Was soll dieser Allerwelts-Pop? Was soll das, Silje? Das Schlagzeug könnte ebensogut von der Drum-Machine kommen, die Streicher sind so doof, das Saxophon spielt nur noch routiniert seinen Riemen runter. Und der Refrain. So vordergründig. Du singst ihn so, als wenn Du ein Schild hochhalten würdest: Das ist jetzt der tolle Refrain zu meinem tollen Stück, das als Single-Auskopplung neue Käuferschichten erschließen könnte. Silje, hast Du das nötig? Soll ich Dir etwas Geld schicken? Es wäre nicht viel, aber vielleicht hilft es doch für eine Weile.

Bei „In A Sentence“ dachte ich schon, es wäre alles nur ein großes Mißverständnis zwischen uns gewesen. Du warst wieder so, wie ich Dich liebe - entspannt, ein wenig neckisch, verhaltener Swing. Eine kleine Jazz-Combo im Hintergrund, ganz laid back, und Deine Stimme, Deine schöne Stimme dazu. Das andere, das war eben nur für die Leute, die es nicht besser wissen. Aber dieses Stück ist nur für uns, nicht wahr?

Auch „Take A Long Long Walk“ ist so ein Stück. Zwar eine Überraschung, aber eine schöne: Ungewohnt funky, ein Rhodes, eine B-3, ein E-Bass und ein flottes Schlagzeug dazu. Das bißchen Blechgetröte zwischendurch stört gar nicht. Und Du singst so befreit, so fröhlich, manchmal mit einem frechen Grinsen in der Stimme. Klasse! Silje, Du kannst es noch, halt Dich daran ganz fest, bitte.

Aber dann! Du singst da „This Is Not America“, diesen abgedroschenen Mist, diesen musikalisch erbärmlichen Müllhaufen von Ersatzmelodie. Das ist nicht Dein Ernst, oder? Mir fällt dazu nichts mehr ein, ehrlich nicht. „Shalalalala ...“ - das hast Du tatsächlich rausbekommen, ohne zu würgen? War noch Platz auf der CD? Silje, das nehm ich Dir übel. Das ist Schrott, Du, das kann ganz gefährlich werden, wenn Du Dich erst einmal auf so etwas einläßt. Tu das nicht. Wenn Du auch nur noch einen kleinen Funken für mich empfindest, dann tu das bitte nicht wieder.

„Be Gone“ beginnt dann mit Tröterei, das muß nicht sein. Na gut, es paßt schon zum Stück. Und dann wieder der Rhodes-Pianist - das ist der gute von der letzten Platte, oder? Und Du mit diesem lasziven halben Sprechduktus, der zuweilen in offenen, ein wenig zornigen Gesang aufbricht. Fand ich nicht schlecht, ehrlich.

Ein bißchen belanglos kommt dann "Borrowing Moons". Am Anfang Gitarrengeklimper - ich dachte zuerst, es wäre die Erkennungsmelodie von „Käptn Blaubär“. War's aber nicht. Schade, daß der alte Nick Drake nicht mehr lebt. Der hätte das schöner gespielt. Und Du könntest schöner dazu singen, nicht so ein Kopfstimmengeplätscher daraus machen. Und Dich nicht immer von dieser überblasenen Flöte unterbrechen lassen. Sag doch einfach diesem Produzenten, diesem ... ich verkneif's mir ... also, sag ihm, daß Du das ganz gut alleine kannst.

Schöne Klavierharmonien, ein bißchen so wie Tom Waits die früher gebracht hat, haben mich bei „Unbreakable Heart“" gefreut. Aber warum setzt Du dann so ein wie irgendeine Amateurin, die im Bekanntenkreis unbedingt „Summertime“ vorführen muß, weil sie sich so toll findet? Ey, Silje, bei diesem Stück war ich zwischendurch wirklich froh, daß das Klavier eine Weile alleine spielte. Ich hätte nicht gedacht, daß es zwischen uns einmal soweit kommt.

Und zum Schluß bringst Du „On And On“. Soll das nachdenklich wirken? Ich fand's öde. Diese sumpfigen Streicher! Sag mal, hat der Produzent etwas mit dem dritten Pult in der zweiten Geige? Oder waren die einfach noch im Studio und haben dann eben auch mitgefiedelt? Sicher, Du tust Dein bestes ... nein, falsch, Du tust es eben nicht. Manchmal kommt da raus, was Du kannst, aber manchmal ist es Kindergottesdienstgewimmer. Kennst Du den Film „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“? Wo irgendwo in der Kirche vorne Leute was ganz Engagiertes daherschrammeln und hinten einer der Gäste so tut, als würde er sich den Finger tief in den Hals stecken vor Ekel? An diese Szene mußte ich kurz denken. Leider.


So, jetzt ist es alles raus. Vielleicht bist Du jetzt erschrocken. Oder Du weinst sogar. Silje, das wollte ich nicht, aber man muß doch ehrlich zueinander sein. Das verstehst Du doch? Und vielleicht überlegst Du es Dir noch einmal mit diesem Produzenten und seinen Ideen. Der Mann ist einfach nicht gut für Dich. Glaub's mir. Vielleicht kaufe ich dann auch Deine nächste CD. Und vielleicht kann zwischen uns wieder alles so sein wie früher. Das willst Du doch auch. Oder? Das willst Du doch.

Und, Silje, ich sag Dir noch eins: Ich habe mir auch „Come Away With Me“ von Deiner Kollegin Norah Jones gekauft. Nein, nein, das ist nur so eine Ersatzbeziehung zwischendurch, nichts Ernstes. Du kennst sowas sicher. Aber, Du, Silje, ich könnte mich da vielleicht doch verlieben. Wenn Du nicht aufpaßt. Soll ich dann sagen, daß wir natürlich trotzdem gute Freunde bleiben? Daß wir wie vernünftige Erwachsene auseinandergehen? Ohne Streit?

Ich will das nicht. Also komm, sei wieder gut mit mir.