Offenbarung beim zweiten Hinhören


Georges Moustaki - Vagabond



„Zu viel Pop, zu wenig Folk“ - das war mein erster Eindruck beim Anhören dieses Albums. Um es gleich vorwegzunehmen: Der Eindruck war falsch.

Wie war ich auf „Pop“ gekommen? Mich hatte wohl die verhältnismäßig üppige und gefällig arrangierte Instrumentierung bei etlichen Stücken aufs Glatteis geführt. Da steckt viel lateinamerikanische Rhythmik drin, bei anderen Titel vertrauter Klavier-und-Orchester-Sound, hin und wieder Synthesizer-Klänge - und noch einiges mehr, aber dazu später.

„Zu wenig Folk“? Nun ja, das ist nicht der Chansonnier der späten 70er Jahren. Aber wie sollte er auch: Es wäre schließlich gräßlich, wenn Moustaki sich nicht weiterentwickelt hätte, nur weil für mich persönlich „Ma Liberté“, „Sarah“ oder „Votre Fille a 20 Ans“ vor allem in den Live-Einspielungen als ewige Ohrwürmer vertraute Erkennungszeichen für Moustakis Musik sind.

Also zurück auf Start, alles konservative Beharrungsvermögen und jegliche Nostalgie beiseite wischen und das Album ganz unvoreingenommen hören. Und dabei stößt man auf einige musikalische Perlen, die zeigen, wie souverän Moustaki sich in den Musikstilen der Welt bewegt. Beeindruckend ist beispielsweise die Verschmelzung südamerikanischer Rhythmen mit Moustakis vertrauter Stimme in „Tom“, „Vagabond“, „Bahia“ oder „Les Eaux De Mars“. Unterstützt von Sylvie Kuhn, klassisch instrumentiert, dabei hin und wieder überraschend irritiert von einer Musette-Akkordeon-Phrase, werden Bossa Nova oder Samba zu - eben: Georges Moustaki.

Bei den meisten Alben finde ich recht schnell ein Lieblingsstück, das allein für mich schon den Kauf der CD rechtfertigt. In diesem Fall ist es „Les Mères Juives“. Leicht swingend und begleitet im Klezmer-Stil kommt der Titel scheinbar ganz harmlos und geradeaus gesungen daher, offenbart aber beim zweiten und dritten Hören eine tiefe Komplexität und geht - wieder ganz simpel - ans Herz.

An letzterem, und das zieht sich durch das gesamte Album, ist nicht zuletzt Moustakis Stimme schuld. Es ist immer noch unverwechselbar Moustakis Stimme, doch man merkt ihr allmählich das Alter des Künstlers an. Sie scheint etwas an Präzision verloren zu haben, ist weicher und dabei ein wenig brüchig und vergänglicher geworden. Das könnte traurig stimmen, wenn man nicht den Eindruck hätte, daß Moustaki ihr diese scheinbare Schwäche ausdrücklich erlaubt. Jeder Sänger muß dem Fortschreiten der Jahre Tribut zollen, doch in diesem Fall verliert Moustakis Stimme weit weniger, als sie dadurch gewinnt, daß die Erfahrung, die Erfolge und die Strapazen der Jahrzehnte in ihr konserviert scheinen.

Manch ein Sänger wäre wohl der Versuchung erlegen, diese Narben und Spuren der Zeit mit Hilfe der Aufnahmetechnik auszubügeln. Bei Moustaki habe ich das Gefühl, daß er im Gegenteil das alles mit ganzer Absicht zuläßt. Ein Zeichen innerer und formaler Reife, das eben kein Nachlassen der Kräfte signalisiert, sondern einen weiteren, nur eben späten Höhepunkt im Schaffen des Chansonniers.