Mini-Moog im Klassenzimmer


Emerson, Lake & Palmer - Pictures At An Exhibition



Es gab ein Leben vor der CD. Musik wurde gerne mit einem Kassettenrekorder aus dem Radio aufgenommen, fertige Tonkonserven gab es auf großen schwarzen Scheiben aus Vinyl. Mal eben einen Track aus dem Web saugen oder fürs Auto eine verlustfreie Kopie auf CD brennen? Das war pure Science Fiction.

In jenen Zeiten wurde echter Rock gespielt. Saubere, unverfälschte Analog-Musik. Da kamen Verzerrungen nicht vom Effektgerät, sondern der Organist drehte seine Hammond B3 oder H100 so weit auf, daß die Röhren seines Leslie-Kabinetts übersteuerten und munter in ihrer Eigenresonanzfrequenz mitmusizierten. Da stellte sich der Gitarrist vor seine Marshal- oder Peavey-Box und ließ den Klang rückkoppeln, daß es eine Freude war. Da spielte Jimi Hendrix mit der Zunge auf den Saiten, und Jon Lord trat mit Schmackes in die Zahnrad-Generatoren seiner Orgel. Man suchte nach neuen Klängen, verwendete von der Melodika bis zum Ofenrohr jeden vielversprechenden Gegenstand als Instrument.

Heute würde man dieser Stilrichtung wohl irgendein griffiges Etikett verpassen, das mit „Metal“ endet und mit einem dumpfbackigen Marketingbegriff beginnt. Damals war es schlicht und einfach Rock. Unsere Musik.

In dieser längst vergangenen Epoche, Anfang der 70er Jahre, traf mich eines Tages ein für mich neuer Klang mitten ins Herz. Es war in einer Musikstunde auf dem Gymnasium - ich muß damals etwa 13 oder 14 gewesen sein. Während die Mittagssonne durchs Fenster fiel und in ihrem Licht feine Kreidestäubchen vor der Tafel tanzten, erläuterte unser Musiklehrer das Konzept von Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“. Die Klasse war im Halbdämmer versunken, mit den Gedanken schon bei den Freizeitaktivitäten des Nachmittags. Unser Lehrer warf fast unbemerkt seine gewaltige Teac-Bandmaschine an, und plötzlich war eine unverständliche Ansage zu hören, dann frenetischer Beifall, dann ein Instrument, ähnlich einem Harmonium, das die ersten Takte der „Promenade“ wiedergab.

Nanu? Da hatte sich jemand an Mussorgsky vergriffen. Etwas interessierter setzte ich mich aufrecht hin, stieß meinen Nachbarn an. „Was ist das?“ - Ein ratloses Schulterzucken. Inzwischen lief der zweite Track, „The Gnome“, und darin schnalzte der Bass, eine Orgel blubberte, der Schlagzeuger tat sein Möglichstes - und dann! Dann setzte ein Instrument ein, das ich nicht kannte, das fein schwebend und doch mit durchdringender Schärfe musizierte, das sang und sägte, durch den Raum flirrte und sich bald wie eine Luftschutzsirene in die Ohren drängte. Mir lief ein Schauer über den Rücken, wahrscheinlich stand mein Mund offen. Das war „Pictures At An Exhibition“ von Emerson, Lake & Palmer, und darin hatte ich zum ersten Mal mit vollem Bewußtsein einen Moog-Synthesizer wahrgenommen. Ich hätte weinen können.

Wow! Damals sagte man noch nicht „wow!“ oder „cool“ oder „geil“, aber das Gefühl war das gleiche: Wow! Ich war elektrisiert. Und mir war klar: Die Platte willst Du haben. Und so ein Instrument willst Du einmal spielen! In meinem Gehirn hatte jemand einen Schalter umgelegt. Das war Keith Emerson mit seinem Mini-Moog. Und diese Schallplatte sollte mein erstes selbstgekauftes Stück Vinyl sein.

Eine Schallplatte zu kaufen, erforderte damals eine kleine Expedition. Bei uns am Ort gab es kein entsprechendes Geschäft. Und die paar Platten, die der Radiohändler hatte, ließen mich schaudern, denn „Schlager“ war damals noch kein Schimpfwort, sondern grauenhafte Realität, die einem Radio Luxemburg zwischen den verschmockten Moderationen von Frank Elstner täglich um die Ohren haute.

Ich setzte mich also eines Nachmittags in die Straßenbahn und fuhr nach Köln. Denn in Köln residierte im Hansa-Hochhaus Saturn. Seinerzeit die erste und einzige Niederlassung weltweit. Noch kein „Technik-Warenhaus“, sondern ein großer HiFi- und Schallplattenhändler, der mit „Hansa-Foto“ im Nachbarhaus auch einen Fotoladen betrieb.

Bei Saturn mußte man seine Tasche einschließen und konnte sich dann auf eine Expedition in die Tiefen des Schallplattensaales machen. Grob in Genres sortiert, standen die Platten zu Abertausenden alphabetisch nach Interpreten angeordnet in großen Kistentischen. Man blätterte durch die Cover, zog eins heraus, betrachtete es gründlichst, ging zum nächsten. Für den Fall, daß eine Wunschplatte nicht in der Schütte vorhanden war, gab es auf dem Unterteiler des jeweiligen Interpreten normalerweise ein Nummernverzeichnis. Anhand der Nummer konnte man dann an endlosen Regalen im Hintergrund des Saales entlanggehen, wo die Schallplatten nach Labels geordnet standen, und sich das ersehnte Exemplar dort heraussuchen. Wer dieses System durchschaut hatte und beherrschte, der galt damals schon was.

Ich fand „Pictures At An Exhibition“ glücklicherweise auf dem Tisch vor, prüfte die Platte fachmännisch auf Kratzer (das war dringend zu empfehlen) und eilte zur Kasse. Eine Schallplatte war mit durchschnittlich 15 Mark so gerade noch vom Taschengeld zu finanzieren, wenn man gewisse Entbehrungen in Kauf nahm. Für diese Platte hätte ich auf vieles mehr verzichtet. Stolz zog ich mit der markanten schwarz-orangen Saturn-Tüte davon.

Zu Hause wurde die Platte natürlich rauf und runter gespielt. In Ermangelung eines eigenen Geräts auf der ehrwürdigen Dual-Anlage meines Vaters und zunehmend zum Verdruß meiner Eltern und Geschwister. Irgendwann hatte ich dann einen eigenen Plattenspieler (und auch eine Reihe weiterer Schallplatten).

„Pictures At An Exhibition“ lebt eigentlich gar nicht primär vom Synthesizer-Klang. Die Basis bildet die gute alte Rockbesetzung mit Schlagzeug, Bass, Gitarre und Gesang. Dazu kommt Keith Emersons markante Hammond und als Tüpfelchen auf dem „i“ erst der Mini-Moog. Der bringt allerdings Klangfarben ins Spiel, die im Zusammenhang mit der Basis so etwas wie einen typischen EL&P-Sound schaffen.

Die Band hatte Mussorgskys Material schon eine ganze Weile auf Live-Tourneen präsentiert, scheute sich aber, ein Album daraus zu machen, um nicht in die Classic-Rock-Ecke gestellt zu werden. Schließlich entschloß man sich 1971 doch zur Veröffentlichung als Live-LP. Gedacht war das Ganze als Leckerbissen für treue Fans. Geworden ist daraus ein echter Longseller, der den Mitgliedern der Band wohl heute noch Freude macht.

Die Sorge um eine Abstempelung als Klassik-Coverer dürfte unbegründet gewesen sein. Anders als etwa Walter Carlos (heute nach einer Geschlechtsumwandlung als Wendy Carlos aktiv), der mit „Switched-on Bach“ und „The Well-tempered Synthesizer“ die Barock-Ära elektrifizierte, oder der Japaner Isao Tomita, der unter anderem eben jene „Bilder einer Ausstellung“ vollelektronisch einspielte, gaben Emerson, Lake & Palmer von vornherein jeden Gedanken an eine werktreue Aufführung auf. Sie übernahmen lediglich den grundsätzlichen Aufbau von Mussorgsky: Jedes Stück soll musikalisch ein Gemälde abbilden, dazwischen symbolisiert das mehrfach wiederkehrende Motiv der Promenade den Gang durch die gedachte Ausstellung.

Im übrigen bediente sich die Band an Mussorgskys Zyklus wie an einem Steinbruch. Manche Stücke wie die „Gärten der Tuillerien“ wurden ganz weggelassen, andere wie die wunderschöne, von Greg Lake mit Inbrunst gesungene Rock-Ballade „The Sage“ haben mit Mussorgsky praktisch nichts zu tun. Alle übernommenen Partien werden dann auch nicht brav mit modernem Instrumentarium nachgespielt, sondern bilden lediglich die melodische Grundlage für munter und mit Verve aufgespielte Rockmusik.

Zuweilen dienen sie als bloße Exposition eines Themas, wie etwa bei „The Old Castle“, das recht kurz angespielt wird, um dann mit seinem harmonischen Material die Grundlage für die temporeich abrockenden „Blues Variations“ zu liefern, in denen sich Emerson als energiegeladener Hammond-Virtuose zeigt.

Eine gute Entscheidung war es mit Sicherheit, das Album als Live-LP zu veröffentlichen. Dadurch kommt es nie in die Gefahr, zu einer musiktheoretischen Abhandlung zu geraten, sondern spielt ganz geradeaus, was das Rockpublikum hören will. Wer die Gegenposition kennenlernen möchte, sollte sich einmal das Studio-Album „Blues On Bach“ des Modern Jazz Quartet anhören - eine durch und durch artifizielle Angelegenheit, die mit Spontaneität und Improvisationsfreude nichts mehr zu tun hat.

Ganz anders Emerson, Lake & Palmer. Hier wird die pure Spielfreude hörbar. Zwischendurch auch als kindliche Verspieltheit, wenn Emerson etwa damit anfängt, seinen Synthesizer herumblubbern und -zwitschern zu lassen, dabei vom begeisterten Publikum wild angespornt wird und noch einiges an verrückten Klängen drauflegt. Oder wenn er seine gute Hammond malträtiert, bis sie ganz und gar orgeluntypische Geräusche von sich gibt, die jeden Instrumentenliebhaber vor Schreck erstarren lassen.

Mit wie wenig pathetischem Ernst man an die Musik gegangen ist, zeigt sich auch in der Zugabe, die mit auf die Platte kam: Hier wird unter dem Titel „Nutrocker“ ein Stück aus Tschaikowskys Orchester-Suite zum Ballett „Der Nußknacker“ geboten. Und zwar als völlig respektlos heruntergedudelter Kirmes-Marsch - den Musikern hat‘s offenbar großen Spaß gemacht.

Inzwischen dürfte aufgefallen sein, daß ich hier keine Track-by-Track-Rezension biete. Ich halte das in diesem Fall für unsinnig. Die Stücke dieses Konzeptalbums laufen teilweise übergangslos ineinander und ergeben letztlich nur als Einheit einen Sinn. Aus heutiger Sicht übrigens vor allem als authentisches Dokument jener Epoche der zeitgenössischen Musik, in der eine überschäumende Experimentierfreude zusammen mit Bühnenfestigkeit und solider Beherrschung der Instrumente die Rockszene bestimmten. „Pictures At An Exhibition“ war damals ein avantgardistisches Projekt, vergleichbar darin dem Album „Rock Theatre“ von Genesis (wenn auch bei weitem erdverbundener als die damals schon gewaltig zur exaltierten Weichspülerei tendierende Pop-Truppe).

Gar nicht selbstverständlich war damals der Einsatz des Synthesizers. Viele „echte“ Rockbands hielten dieses Instrument für ein Mogelgerät, das der reinen Lehre des Rocks widersprach. So ließ Queen beispielsweise noch bis in die 80er Jahre hinein trotzig und stolz den Satz „No Synthesizers!“ auf ihre Cover drucken. Andere waren da bei weitem weniger von Berührungsängsten geplagt und nutzten die elektronischen Möglichkeiten, die sich boten. Ob es sich um die etwa von Peter Frampton exzessiv genutzte Talk-Box handelte, um den Vocoder oder eben um den Synthesizer.

Die Firma Moog hatte mit dem Mini-Moog endlich ein erschwingliches, bühnentaugliches Gerät auf den Markt gebracht und damit eine nicht zu bremsende Entwicklung angestoßen. „Mini“ war der monophone Moog eigentlich nur im Vergleich zu den kaum bezahlbaren, seekoffergroßen polyphonen Synthesizern herkömmlicher Fertigung. Ansonsten bestand er aus solidem Metall und Edelholz, brachte ein kräftiges Gewicht auf die Waage und erreichte Ausmaße, die heute manch ein veritables Keyboard zieren würden. Aber er hatte durch seine drei Oszillatoren einen satten Klang, war recht übersichtlich einstellbar, transportabel und mit einem Preis von 3000 bis 4000 DM für Profis locker bezahlbar.

Ich habe es trotz des Vorsatzes in jener Musikstunde nie zu einem Mini-Moog gebracht. Lange Zeit fehlte mir das Geld dafür. Als ich es hatte, gab es keine Mini-Moogs mehr, und heute erhält man nur noch kostspielige Museumsstücke, die angesichts der begrenzten klanglichen Möglichkeiten nur etwas für hartgesottene Fans sind.

Trotzdem hat mich meine erste Schallplatte Jahre später zum Kauf eines Synthesizers (genauer: eines Korg MS-20) bewogen. Der Klang war deutlich dünner, der Preis mit knapp 1200 DM jedoch auch. Einige Jahre lang hatte ich viel Spaß damit und mich jeden Samstagnachmittag durch verräucherte Bandproben gedudelt. Doch irgendwann war die Zeit der analogen Synthies zu Ende, es gab zuerst die schwer durchschaubare, aber klanglich eindrucksvolle FM-Synthese eines Yamaha DX-7, dann bezahlbare Sampler - irgendwie war die Luft raus. Ich habe dann den Synthie verkauft und mir eine gebrauchte Korg BX-3 geleistet - der Hammond-Sound wird immer aktuell sein.

„Pictures At An Exhibition“ habe ich mir später auch als CD gekauft - die Vinylplatte ist vom vielen Hören längst gebügelt und verknistert, ich besitze sie aber immer noch. Die CD ist digital neu gemastert worden, technisch auf der Höhe der Zeit.

Allein die Musik kann mich nicht mehr so mitreißen wie früher. Es ist immer noch gute Rockmusik, aber zum einen ist der Neuigkeitswert dahin, zum anderen hat sich auch die populäre Musik weiterentwickelt (und das nicht ausschließlich zum Schlechteren) und schließlich hat sich auch mein Geschmack in den letzten 30 Jahren ein wenig geändert.

Ich weiß immer noch ganz genau, wie mich das Album seinerzeit begeistert hat, geblieben ist davon nur noch ein Anflug von Nostalgie - aber die ist ja bekanntermaßen ein ganz verderbliches Gefühl.