Last Recording


Eugen Cicero - Swinging Piano Classics


Außerhalb der Jazz-Szene wird Eugen Cicero nur wenigen Musikfreunden bekannt sein. Und wenn, dann sehen sie ihn in einer Reihe mit Pianisten wie Horst Jankowski und Paul Kuhn: Tanztee-Musik, seichte Show-Pianistik, unverbindlich daherplätschernder Easy-Listening-Einheitsbrei.

Vollkommen richtig und auch wieder ganz falsch. Wie Kuhn und Jankowski hatte Cicero in den 70er und 80er Jahren seine großen Fernsehauftritte mit schwülstiger Streicherbegleitung, weiß poliertem Flügel und einer verschwenderisch flitternden Bühnendekoration. Und wie Kuhn und Jankowski war er dann am besten, wenn er Kammerjazz in der klassischen Klaviertrio-Besetzung spielte. Und er hat ein Genre geschaffen, in dem er auch heute noch eine Alleinstellung beanspruchen darf. Knapp 6 Jahre nach seinem Tod.

Doch von vorne: Eugen Ciceros Karriere begann im Rumänien der Nachkriegszeit. 1940 in Siebenbürgen geboren, lernte er als Kind das Klavierspielen und zeigte sehr früh eine ungewöhnliche Begabung. Die Laufbahn als Konzertpianist schien vorherbestimmt: Ausbildung bei renommierten Künstlern seines Landes, Musikstudium mit einer Ausbildung in Arrangement und Komposition, Konzertreisen und Tourneen ins Ausland. Es hätte nicht viel gefehlt, und man würde Eugen Cicero heute in eine Klasse mit Pianisten wie Wladimir Horowitz oder Swjatoslav Richter sehen.

Dieses Leben schien Cicero zu begrenzt. Und er machte die Erfahrung, daß es mehr als das klassische Piano gab. Eins seiner Schlüsselerlebnisse trug sich bei einem Auslandsaufenthalt in Warschau zu. Dort sah er bei einem informellen Konzert, wie polnische Jugendliche begannen, zu den Nocturnes und Grandes Valses von Chopin zu tanzen. Klassik, Barock oder Romantik als tanzbare Musik? Ohne weiteres! Viele Stücke der heute mit tiefernstem Gesicht verehrten Komponisten des 18. und 19. Jahrhunderts waren zu ihrer Zeit schlicht Unterhaltungsmusik. Hinzu kamen in den 60er Jahren Ausflüge in das damalige Zentrum des europäischen Jazz - nach Berlin. Die Offenbarung des Swing und die eigenen Vorlieben fügten sich wie ein Puzzle zusammen - Eugen Ciceros Musik entwickelte sich ab dieser Zeit hin zur Fusion von Klassik und Jazz.

In den 60er und 70er Jahren traf dies im wahrsten Sinne des Wortes auf offene Ohren. In allen Sparten der populären Musik adaptierte man die klassischen Komponisten. Im Rock, wo etwa Emerson, Lake and Palmer sich an Mussorgsky und Tschaikowsky austobten. In der frühen elektronischen Musik mit Walter/Wendy Carlos und Isao Tomita. Im Jazz mit Jaques Loussier, Clare Fisher oder dem Modern Jazz Quartet. Cicero ist aus meiner Sicht derjenige, der in seinen Aufnahmen sowohl die klassische Musik als auch den Jazz jeweils am reinsten erhalten konnte und zugleich in der tiefsten Weise miteinander verband.

Im Laufe der Jahrzehnte hat Eugen Cicero mehr als 70 Alben aufgenommen. Darunter recht unsägliches Zeug wie die (bezeichnenderweise bis heute immer wieder aufgelegte) Platte „A Love‘s Dream“ oder belanglose Mainstream-Aufnahmen wie „Berlin Reunion“, aber eben größtenteils echte Diamanten des Jazz. Dabei spielte er mit etlichen Größen und Übergrößen der Szene zusammen. Jahrelang mit dem Drummer Charlie Antolini, außerdem mit dem Bassisten Niels Henning Ørsted Pedersen, mit Ralf R. Hübner, J. A. Rettenbacher, Garcia Morales, mit dem klassischen Organisten Wilhelm Krumbach, der Sopranistin Ruth Juon oder dem Bassisten Decebal Badila. Aufnahmen erschienen bei MPS, Metronome, Intercord oder dem legendären Label SABA, in letzter Zeit gab es CD-Wiederveröffentlichungen bei Timeless Music und eine Neuveröffentlichung bei In + Out Records.

Anfang Dezember 1997 starb Eugen Cicero, völlig überraschend. Er wurde zu Hause in Zürich von seinem Sohn, dem Sänger Roger Cicero, tot aufgefunden.


Das Vermächtnis - Swinging Piano Classics


Fast auf den Tag genau ein Jahr zuvor, am 13. Dezember 1996, gab Eugen Cicero ein Konzert im Kursaal von Überlingen am Bodensee. Die Live-Aufnahme wurde 2002 von In + Out Records auf CD veröffentlicht. Die Besetzung ist für ihn recht ungewöhnlich: Begleitet wird Cicero nur von dem Bassisten Decebal Badila, der keinen akustischen, sondern einen E-Bass spielt. Der zurückhaltende, leicht singende Basston unterstützt das Piano prägnant, aber alles in allem recht unauffällig, so daß man über weite Strecken den Eindruck einer Piano-Solo-Aufnahme hat. Sparsame, eher kurz angedeutete Soli zeigen dennoch immer wieder die Perfektion des Bassisten.

Das Album besteht aus 11 Tracks mit insgesamt ca. 71 Minuten Spielzeit. Die Zusammenstellung folgt dabei der Abfolge und damit der inneren Spannung des Konzertabends. Die ersten 9 Tracks dürften dabei das Konzertprogramm bilden, Track 10 und 11 die Zugaben.

Im folgenden eine kurze Charakterisierung der einzelnen Stücke:

1. Christiana‘s Song (6‘60)


Hier handelt es sich um eine Eigenkomposition Ciceros, in der er zu Beginn die technische Perfektion perlender Melodieläufe, spielerische Pizzicato-Passagen und eine romantisch-schwelgerische Grundstimmung präsentiert. Nach der Exposition des Themas setzt der Bass ein, unterstützt die Blockakkorde Ciceros, die mit Läufen abwechseln und das swingende Tempo der Improvisationen einführen. Danach marschiert der Swing in bester Tradition eines Oscar Peterson weiter - und durchaus dessen technische Fähigkeiten einholend, wenn nicht gar übertreffend. Überhaupt: Wer Peterson liebt, wird auch dieses Stück sofort schätzen. Die typische Spannung, die aus Triolenläufen, abwechselnd mit akkordischen Passagen, kurzen Bass-Soli und Tempovariationen resultiert, scheint ganz und gar als Hommage an Peterson gedacht zu sein.

2. Sonata in C-Major (4‘45)


Das ist der klassische Cicero. Domenico Scarlattis C-Dur-Sonate wird werktreu vorgestellt, dann spielerisch erst vom Barock in die Romantik, dann in den Swing überführt. Das Stück gewinnt an Tempo, nimmt sich zurück, plätschert kurz dahin, um dann wieder ganz stringent und halsbrecherisch zu swingen. Dies immer wieder im Wechselspiel, kongenial von Badila begleitet.

3. Fantasy & Prelude (8‘43)


Chopin ist Ciceros alte Liebe. Nicht nur als Rohmaterial für den Jazz, sondern auch in seiner Ursprungsform. Bei der unbegleiteten Exposition spielt Cicero wie Horowitz. Ich habe die Aufnahmen der beiden Pianisten verglichen, sie sind fast identisch - Cicero ist wie Horowitz einer der letzten Romantiker am Klavier.

Das hindert ihn nicht, in der Variation ganz zwingend und „a tempo“ zu swingen. Zusammen mit dem Bass verleiht er dabei dem Stück eine rhythmische Komplexität, die wohl auch Chopin überrascht und hoch erfreut hätte. Sehr dankbar zeigt sich dabei der Dreivierteltakt, den Cicero einmal in bewährter Jazz-Waltz-Manier, dann im Sechsachtel-Groove verarbeitet.

Nach erneuter majestätischer Exposition kommt dann das Prelude im Vierertakt rollend und stampfend daher - weitaus moderner als Cicero es Jahre zuvor auf „Cicero‘s Chopin“ gebracht hat, aber leider auch etwas kürzer.

4. Misty/Tea for two - Medley (8‘13)


Am Titel schon erkennbar, ist hier eine Ehrenbezeugung an Erroll Garner angesagt. Garners Erzschnulze „Misty“ (erinnert sich jemand an den Film „Play Misty for me“ mit Jessica Walter und Clint Eastwood?) wird zunächst auch als Erzschnulze vorgestellt (zum Glück ohne die Streicher, die Garner auf „Other Voices“ für nötig hielt), dann hat Cicero aber gleich im zweiten Chorus den mittleren Garner adaptiert, der mit akkordisch stampfenden Stücken wie „Mambo Carmel“ oder „Caravan“ Maßstäbe setzte.

Hier trifft der Konservatoriumsschüler Cicero den Autodidakten Garner, der keine Noten lesen konnte und der Cicero trotzdem nachhaltig beeindruckt hat. Daß sich im Medley „Tea for Two“ anschließt, ist deshalb kein Zufall, war es doch eins der überzeugendsten Stücke auf Garners wohl reifstem Album „Gemini“.

5. Ah! Vous dirais-je, Maman (6‘36)


Ein französisches Volkslied mit einfachster Harmonik und Melodik, über das Mozart Variationen schrieb. Auch die nicht sehr kompliziert und anspruchsvoll, deshalb aber wohl jedem zweiten Klavierschüler bestens bekannt. Noch bekannter ist die Melodie als deutsches Volkslied mit dem Text „Morgen kommt der Weihnachtsmann“. Stoff für eine Swing-Nummer? Unbedingt!

Die Exposition kommt schlicht im Rokoko-Stil daher, entgleitet dabei aber recht bald in Jazz-Harmonien - wohl um das Stück nicht allzu langweilig erscheinen zu lassen. Der Bass dabei spielerisch trillernd und tremolierend. Dann wird ganz geradeaus geswingt, und Cicero ergreift die Gelegenheit, am schlichten Melodiematerial seine technische Perfektion zu präsentieren. Als Reminiszenz an den deutschen Kinderlieder-Text wird zwischendurch mal ein Zitat von „White Christmas“ eingeflochten, an anderer Stelle „Hänschen klein“.

Anschließend wird es dann Zeit, das Stück rhythmisch und harmonisch bis fast zur Unkenntlichkeit zu zerlegen und dabei Urformen des Jazz wie Ragtime oder Blues einzubauen.

Alles in allem eine recht humoristische Nummer, an der beide Instrumentalisten hörbar ihren Spaß haben. Der Bass kommt hier übrigens zu einer seiner längeren Solopassagen.

6. Fantasy in D-Minor (6‘49)


Quasi als Wiedergutmachung kommt hier der „ernstere“ Mozart zur Geltung. Auch hier läßt sich in der Exposition wie beim Chopin die Auffassung von Horowitz erkennen, der dieses Stück in ganz ähnlicher Manier einspielte.

In der Variation gelingt es dann Cicero, die spielerisch-virtuose Stimmung des Rokoko mit einem schlichten, fast banal treibenden Swing-Rhythmus zu kombinieren. Sicher keins der stärksten Stücke auf der CD, aber eins der geradlinigsten.

7. Sunny (6‘49)


Hier ein bekanntes Kabinettstückchen aus Ciceros Repertoire, das er etliche Male, zum Beispiel auf dem Studioalbum „Phoenix“, in Perfektion einspielte: Der Pop-Ohrwurm „Sunny“ dient hier als harmonisches Grundgerüst, das sich quer durch die Musikgeschichte hochrangige Werke der Klaviermusik einverleibt.

Nach einer traditionellen Swingfassung des Popsongs flechten die Musiker etliche Zitate ein, die dann gekonnt und überraschend immer wieder in die Melodie von „Sunny“ münden, ganz selbstverständlich und mit einem Augenzwinkern. Im Laufe der Jahre fanden sich von Beethoven bis zu Chopin, Liszt, Debussy und Schubert schon alle namhaften Komponisten in „Sunny“ wieder. Dabei wählte Cicero häufig nach dem Anlaß und der Tagesform aus, wen er in „Sunny“ verarbeitete. Beim Überlinger Konzert waren es neben der Mondscheinsonate und anderen bekannten Melodien auch typisch pentatonische ostasiatische Klänge - des Rätsels Lösung: Im Publikum saß eine chinesische Delegation als geladene Gäste.

„Sunny“ wirkt hier zwar nicht so stringent wie in Studiofassungen, entschädigt dafür aber mit viel Humor und einem atemberaubend furiosen Schlußtempo.

8. Autumn Leaves (7‘32)


Mittlerweile ein Jazz-Standard, ursprünglich eine recht traurige Ballade, die in der englischen und der französischen Fassung vor Jahrzehnten in den Pop-Charts stand.

Cicero gelingt es, die ursprüngliche Trauer des Stückes zu fassen. Zu Beginn improvisiert er es in freiem Tempo, spielt mit einer seltenen Virtuosität Läufe um die Melodie, die niemals prätentiös wirken. Schlicht: Er wird dem Stück in einer Weise gerecht, wie man sie weder bei einer Instrumentalversion noch einer Jazzfassung vermuten würde.

Ehe der Zuhörer zum Taschentuch greift, schleicht sich dann doch wieder Erroll Garner ein, gibt ein unglaublich rhythmisches Gastspiel in der linken Hand und in der Bassbegleitung, ohne die Moll-Harmonien zu beeinträchtigen. Und unversehens ist aus dem balladesken Vortrag ein komplexes rhythmisches Konstrukt geworden. Zum Schluß findet es mit freiem Tempo wieder zur Ballade zurück, erhält ein wenig Pathos durch üppige Akkordläufe und endet in zurückhaltendem Einzelton. Einfach schön.

9. Badinerie (5‘14)


Natürlich darf auch Bach nicht fehlen. Mit der Badinerie ist er durch ein Paradestück vertreten, das schon etliche zeitgenössische Populärmusiker verarbeitet haben.

Erst spielt Cicero es fast werktreu vor, dann will er uns zeigen, was Tempo ist, rennt die Klaviatur hinauf und hinunter, bringt triolische Läufe und kurze Rubato-Passagen ein. Schlicht: Er spielt Bach viel zu schnell, aber absolut überzeugend in die Gegenwart übertragen. Der Bassist läßt sich davon anstecken, bringt etwas solistische Abstraktion und zugleich wieder mehr Ruhe ins Stück, aber dann geht auch schon wieder die Post ab. Ein drei oder vier Takte langes Zitat von „Sweet Georgia Brown“ leitet das Finale und die Rückkehr zur Werktreue ein. Perfekt, gekonnt und einfach fantastisch!

10. Rumanian Folksongs (5‘35)


Gar nicht typisch und eine wunderschöne Reminiszenz an Ciceros Heimat ist dieses Potpourri traditioneller rumänischer Melodien. Hier spielt er mit einem Ländler zum Tanz auf, schwelgt in nostalgischen Erinnerungen und geht dann in eine traditionelle Doina über - so würde es sich anhören, wenn George Zamfir nicht die Panflöte, sondern das Klavier spielte. Ein schönes Beispiel dafür, was Crossover-Musik auch bedeuten kann.

11. Heidschi Bumbeidschi (4‘17)


Als ich den Titel auf der CD-Hülle las, stutzte ich erst einmal. Ein banal-dümmliches Kinderlied. Wie kann man nur! Man kann - zumindest Eugen Cicero.

Er nimmt die Banalität des Materials einfach hin, führt sie zurück zu einer tieferen musikalischen Wahrheit und macht ein ganz schlichtes und im Inneren wunderschön trauriges Stück daraus. Unaufgeregt und trotzdem technisch perfekt. Schlicht und trotzdem mit musikalischer Substanz.

Das letzte Stück auf Eugen Ciceros letzter Aufnahme. Ein ungewollter und viel zu früher Abschiedsgruß. Wer Ciceros Musik über die Jahre lieben lernte, ist spätestens beim zweiten oder dritten Anhören tatsächlich versucht zum Taschentuch zu greifen. Oder zumindest einmal sehr tief zu seufzen.

Was soll man noch zum dem Album sagen? Eigentlich nur das: Kauft es und hört es in Ruhe an. Es ist eine der wenigen Cicero-CDs, die noch im Handel zu finden sind. Und eine technisch perfekte, liebevoll gemasterte Aufnahme. Wenn ihr andere seht, kauft auch die. Es ist schöne Musik mit einem gewissen Anspruch, die ganz nebenbei auch als probates Mittel gegen den Kulturpessimismus taugt.