Unverhofftes Vermächtnis


Eugen Cicero - Solo Piano


Seit wenigen Tagen gibt es eine neue CD von Eugen Cicero. Eine echte Entdeckung: Das Material ist fast 30 Jahre alt und galt lange als verschollen, der Künstler ist vor mehr als sieben Jahren verstorben, sein Werk galt als abgeschlossen. Ich kann jetzt schon verraten: Die CD hat mich begeistert.

Eugen Ciceros Karriere begann im Rumänien der Nachkriegszeit. 1940 in Siebenbürgen geboren, lernte er als Kind das Klavierspielen und zeigte sehr früh eine ungewöhnliche Begabung. Die Laufbahn als Konzertpianist schien vorherbestimmt: Ausbildung bei renommierten Künstlern seines Landes, Musikstudium mit einer Ausbildung in Arrangement und Komposition, Konzertreisen und Tourneen ins Ausland.

Dieses Leben schränkte Cicero zu sehr ein, zumal in einem politisch reglementierten Kulturbetrieb. Doch interessanterweise scheint gerade die kulturelle Enge im kommunistischen Machtbereich seinen ganz eigenen Weg beflügelt zu haben: Eine freie Entfaltung populärer Musik mit all ihren Wagnissen und dem Hang zu unkonventionellen Positionen war kaum denkbar. Der Kanon barocker, klassischer und romantischer Klaviermusik dagegen war auch in Osteuropa tief verwurzelt und von den Machthabern akzeptiert, weil scheinbar unverfänglich. Mit diesem musikalischen Bestand im Gepäck setzte sich Cicero 1962 in den Westen ab und kam in das damalige Zentrum des europäischen Jazz - nach Berlin. Die Offenbarung des Swing und das vorhandene Repertoire fügten sich wie Teile eines Puzzles zusammen: Eugen Ciceros Musik entwickelte sich ab dieser Zeit hin zur Fusion von Klassik und Jazz.

In den 60er und 70er Jahren traf dies im wahrsten Sinne des Wortes auf offene Ohren. In allen Sparten der populären Musik entdeckte man die klassischen Komponisten. Allerdings mit sehr unterschiedlichen Intentionen: Adaptionen durch U-Musiker erschöpften sich häufig darin, das Tonmaterial in jeweils genretypischer Instrumentierung zu präsentieren, blieben also oft reines Arrangement.

Eugen Cicero dagegen gelang es immer, die Harmonien vergangener Jahrhunderte zur Grundlage echter Jazz-Improvisation zu machen und dabei dennoch vor allem in den Expositionen der einzelnen Stücke durchaus werktreue Interpretationen auf hohem pianistischen Niveau zu präsentieren. Er ist damit derjenige, der in seinen Aufnahmen sowohl die klassische Musik als auch den Jazz jeweils am reinsten erhalten konnte und zugleich in der tiefsten Weise miteinander verband.

Im Laufe der Jahrzehnte bis zu seinem viel zu frühen Tod 1997 hat Eugen Cicero mehr als 70 Alben aufgenommen. Vorwiegend in der Trio-Besetzung mit Baß und Schlagzeug, aber auch mit aufwendig arrangierten Streicher-Ensembles. Dabei spielte er mit etlichen Größen und Übergrößen der Szene zusammen. Jahrelang mit dem Drummer Charlie Antolini, außerdem mit dem Bassisten Niels Henning Ørsted Pedersen, mit Ralf R. Hübner, J. A. Rettenbacher, Garcia Morales, Toots Thielemans, mit dem klassischen Organisten Wilhelm Krumbach, der Sopranistin Ruth Juon oder dem Bassisten Decebal Badila.

Auf dem vorliegenden Album finden sich - recht untypisch für ihn - ausschließlich Solo-Aufnahmen, die am 14. September 1978 bei den Debrecen Jazz Days entstanden. Dieses älteste ungarische Jazz-Festival wurde erstmals 1973 veranstaltet und sah in seiner Geschichte internationale Jazz-Größen wie Marcus Miller, Wayne Shorter und Lee Konitz ebenso wie lokale und nationale Protagonisten. Von Ciceros Konzert 1978 existierte eine weithin unbekannte Aufnahme, die lange in Archiven schlummerte, bis sie von einem Sammler 2004 entdeckt wurde.

So wird uns nicht ganz zufällig zur Zeit der europäischen Integration ehemaliger Ostblockstaaten bewußt gemacht, aus welchem gemeinsamen kulturellen Erbe wir schöpfen und wie aufmerksam auch während des Kalten Krieges die musikalische Situation diesseits des Eisernen Vorhangs verfolgt wurde.

Die Konzertaufnahmen zeigen zweierlei: Zum einen belegen sie die äußerst familiäre Atmosphäre, die aus dem Zusammenspiel hochrangiger Künstler und eines ebenso kundigen wie begeisterten Publikums entsteht. Zum anderen präsentieren Sie einen Eugen Cicero in Hochform, der virtuos, experimentierfreudig und stellenweise geradezu ausgelassen seinen musikalischen Stoff verarbeitet.

Die Abwesenheit von Begleitmusikern beeinflußt natürlich Ciceros technisches Herangehen an die Stücke, spornt ihn aber eher an als ihn in Verlegenheit zu bringen: Gleich beim ersten Titel, dem Standard "Shiny Stockings", beweist er, daß eine auf Unabhängigkeit trainierte linke Hand ohne weiteres einen Begleiter ersetzt. Er spielt hier einen munteren "walking bass", während er in der Rechten Melodie und akzentuierende Block-Akkorde vereint. Dabei schimmert nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal in seinem Schaffen die tiefe Zuneigung zu Erroll Garners rhythmischer Auffassung des Klavierjazz durch; wie später auch im Gershwin-Medley - "I Got Rhythm" wird dort ganz im Stil des großen Autodidakten präsentiert.

Überhaupt widmet sich Cicero bei seinem Konzert sehr ausführlich dem Mainstream-Jazz: Etliche der präsentierten Stücke sind Standards; die für ihn typischen Klassik-Adaptionen geraten auf den ersten Blick ins Hintertreffen. Das scheint allerdings nur so. In Debrecen verfolgte Cicero offenbar zwei Ziele: Einmal die traditionelle Klaviermusik als harmonisches Grundmaterial für ambitionierten Swing zu verwenden, andererseits balladeske und swingende Jazz-Standards mit den Interpretationsmitteln des konzertanten E-Musik-Pianisten darzubieten.

Sehr schön läßt sich dieser Ansatz an Ciceros wohl bekanntestem Kabinettstück "Sunny" belegen. In den meisten der zahlreichen Studio- und Live-Aufnahmen dieses Titels spielt Cicero die Evergreens der "ernsten" Klaviermusik kurz an, um dann immer wieder an harmonisch passender Stelle in die eingängige Melodie von "Sunny" zu wechseln. In Debrecen dagegen bleibt er recht konsequent bei "Sunny" und variiert das Stück mit den Phrasierungen, Tempi und kompositorischen Figuren barocker bis romantischer Musik. Dabei beweist er en passant, daß er alle technischen Aspekte des zeitgenössischen Jazz ausschöpfen kann. Diesmal also nicht das pianistische Erbe in mundgerechten Häppchen mit "Sunny" als wiederkehrender heiterer Pointe, sondern in bester klassischer Tradition "Variationen über ein Thema von Bobby Hebb".

Wo Cicero sich des traditionellen pianistischen Repertoires annimmt und damit sicher auch gerne den Erwartungen des Publikums entspricht, wird er den Stücken immer wieder auf verblüffende Weise gerecht, ohne den Bezug zur Gegenwart zu verlieren. Schuberts "Heideröslein" übersetzt er in heiter perlende Improvisationsfreude, Bachs Choral arrangiert er harmonisch komplex, ohne ihm den schwermütigen Grundton zu nehmen. Chopins Walzer bleiben auf frappierende Weise werktreu: Cicero legt mit seiner Interpretation die sonst vom übervirtuosen Vortrag klassischer Pianisten allzu schnell verschüttete Tanzbarkeit frei. Zugleich gelingt es ihm, die bei aller rhythmischen Eingängigkeit doch oft melancholische Harmonik Chopins aufblitzen zu lassen.

Umgekehrt steht Chopin Pate für die Interpretation von Joseph Cosmas "Les feuilles mortes". In der Exposition wird daraus beinahe ein Nocturne, in der Improvisation kommt dann wieder Erroll Garner ins Spiel - ein beiläufiges Zitat von "Tea for Two" gibt den augenzwinkernden Hinweis.

Ganz bei sich selbst ist Cicero in "Nancy With A Laughing Face". Von Frank Sinatra populär gemacht, wird das kleine Lied für Cicero zum vorsichtig umspielten und meditativ von allen Seiten behutsam betrachteten melodischen Material. Das wirkt so intim und versonnen, dass man Eugen Cicero während der gut sechs Minuten ganz allein im Saal wähnt. Man fühlt sich spontan an die Balladeninterpretationen erinnert, die Oscar Peterson in den 60er Jahren im Haus des MPS-Gründers Hans-Georg Brunner-Schwer einspielte. Beide Pianisten prägten auf ihre Weise den legendären MPS-Sound und begegneten einander dabei auf Augenhöhe.

Reichlich Schabernack treibt Cicero mit "The Sheik of Araby" - sehr zur Freude des Publikums. Beginn und Ende führen in die Tradition des Ragtime zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurück. Dazwischen wechselt die Stimmung gewollt übertrieben ins schwülstige Pathos, um sich ganz schnell und mit Zwischenapplaus bedacht ins munter Tändelnde zu bewegen und dann überraschend einige Takte Beethovens einzuflechten - eine Volte, die man zuvor bei "Sunny" erwartet hätte.

Verblüffendes erreicht Cicero mit "Glory Halleluja". Eigentlich bieten dessen simple Harmonien wenig Stoff für spannende Improvisationen. Doch zahlen sich hier Ciceros Kompositionsstudien aus: Mit der Verlagerung nach Moll und der Anreicherung durch komplexes Akkordmaterial kommt er zu einer überzeugenden Interpretation. Das erinnert an Bachs "Musikalisches Opfer", doch ist für Cicero nicht wie für Bach politische Opportunität das Motiv, sondern "Glory Halleluja" ist ihm im Gegenteil als Ruf zur Befreiung von äußerem Druck eine Herzensangelegenheit.

Das Konzert von Debrecen wirkt selbst nach fast drei Jahrzehnten frisch und neu. Hier beweist Cicero, dass er immer wieder zu überraschen vermag. Gleichzeitig fügt es sich aber in der Rückschau sehr konsequent und folgerichtig in Ciceros Entwicklung ein: Die begeisternde Virtuosität der ersten Karriereschritte spiegelt sich darin ebenso wie die reife Meisterschaft der späten Jahre. Und es zeigt sich, daß Cicero immer wieder zu überraschen weiß. Er ist eben nicht auf der meist vergeblichen Jagd nach der idealen Interpretation, die das Schaffen traditioneller Konzertpianisten zuweilen in plötzliche Frustration münden läßt (wie das Beispiel Friedrich Guldas zeigt, der nicht ganz zufällig ebenfalls im Jazz einen Weg aus musikalischen Sackgassen fand).

Cicero zeigt die Musik als stetig in Wandlung begriffenes Medium, das sich ständig neu erfinden und immer wieder variieren läßt. Es gibt in Ciceros Laufbahn nichts Endgültiges, Festgelegtes, sondern an jeder Stelle ist die Neugier zu spüren, die auf der soliden Grundlage technischer Perfektion immer wieder zu erfreulichen Neuentdeckungen im scheinbar Bekannten führt.

In Debrecen erlaubte er dem Publikum einen Blick in seine interpretatorische Werkstatt, ließ sie am Entstehen musikalischer Einfälle teilhaben und ließ sich seinerseits von der Antwort der Zuhörer wieder zu spontanen Reaktionen leiten.

Daß die Aufnahmen live und solo entstanden, ist ebenfalls ein glücklicher Umstand. Denn hier spielt Eugen Cicero pur - nur aus sich heraus und ganz auf sich gestellt. Daß er, der sich gegenüber seinen Begleitern in den verschiedenen Ensembles durchaus zurücknehmen konnte, als Solist mühelos ebenso präsent war wie als Kopf eines Trios, läßt noch mehr von einem überragenden Können spüren, das sich mit Leichtigkeit jeder Besetzung, jedem Publikum und jedem Anspruch anpassen kann.

Und die Unabhängigkeit eines Solo-Auftritts paßt gut zu dem freien Geist, den Cicero stets bewiesen hat, wenn er sich weder auf ein Genre festlegen noch durch politische Grenzen beschränken ließ. Er fand sein Publikum im Osten wie im Westen, unter Kennern der alten Komponisten wie unter Jazz-Enthusiasten. Daß es jetzt, Jahre nach Ciceros Tod, noch verborgene Schätze aus seinem Oeuvre zu heben gibt, stimmt optimistisch: Auch in Zukunft wird Eugen Cicero uns wohl noch aufs Beste unterhalten können. Zwar wohl nicht so bald mit unbekanntem Material, aber für den Sommer ist die Neuveröffentlichung einiger seiner legendären MPS-Aufnahmen geplant. Ich freue mich jetzt schon darauf.

Die jetzt erschienene CD wurde vom Label "in + out records" veröffentlicht und wird von in-akustik vertrieben - eine Garantie für sorgfältige tontechnische Bearbeitung, die stets eine gute Balance zwischen zeitgemäßer Klangqualität und authentischem Hörerlebnis wahrt. Zu haben ist das gute Stück bei den üblichen Verdächtigen des Online-Musikvertriebs und natürlich beim Händler Ihres Vertrauens.