In der Zwischenwelt


Jacob's Ladder



Jacob Singer ist aus dem Vietnamkrieg heimgekehrt. Doch die Welt, in der er lebt, ist nicht mehr seine Welt. Sein gewohntes Umfeld ist zerbrochen. Der promovierte Akademiker arbeitet als Briefträger, hat seine Frau und die Kinder verlassen und wohnt mit Jezebel zusammen, einer jungen Kollegin.

Jacob weigert sich zu denken. Er hat sich auf die Grundfunktionen des Daseins zurückgezogen, auf einen überschaubare Alltag aus Essen, Schlafen, Arbeiten. Das ist überschaubar und auszuhalten. Doch auch diese Existenz bekommt Risse. Jacob sieht Dinge, die nicht real sind, Albträume überfallen ihn im Wachzustand, die Realität ist nicht mehr fest und sicher. Zudem quälen ihn Erinnerungen. An ein blutiges Massaker in Vietnam, bei dem er schwer verletzt wurde, an seinen kleinen toten Sohn, der bei einem Verkehrsunfall umkam.

Und sein Rücken macht ihm immer wieder zu schaffen. Dann ist er nahezu bewegungsunfähig und muß von Louis, seinem Chiropraktiker, wieder auf die Beine gestellt werden.

Jezebel versucht die bösen Erinnerungen auszulöschen. Sie vernichtet seine Familienfotos, steht ihm in seinem Wahn bei. Vergeblich. Jacobs Welt ist aus den Fugen. Er sieht Dinge, die nicht existieren, alltägliche Situationen entgleisen und werfen ihn wortwörtlich zu Boden.

Eines Tages trifft Jacob alte Kameraden aus Vietnam wieder. Und er entdeckt, daß er nicht allein mit seinen Problemen ist. In Vietnam ist etwas mit ihnen geschehen, dem sie auf die Spur zu kommen versuchen. Doch auch bei diesem Versuch stoßen sie auf Widerstand, werden mit geheimnisvollen Anschlägen und Todesfällen konfrontiert. Schließlich findet Jacob die Lösung alleine. Sie ist ebenso folgerichtig wie schrecklich.

**** Achtung! im folgenden Text werden Details des Films erwähnt! ****
(Bei Bedarf also bitte bis zur Entwarnung scrollen)



Ebenen


Es ist nicht einfach, diesem vielschichtigen Film auf die Spur zu kommen. Sicher, am Ende klärt sich alles, paßt das Puzzle zusammen und Jacob findet seinen Frieden. Der Zuschauer jedoch keineswegs.

Versuchen wir, die Geschichte in ihre Ebenen zu zerlegen. Da ist zum einen das Geschehen in Vietnam. Nimmt man die in eingestreuten Brocken erzählte Episode für sich, ist sie die tragische Geschichte eines mißglückten Drogenexperiments der Army, bei dem die Beteiligten aufeinander losgehen, sich gegenseitig zerfleischen - und bei dem Jacob umkommt. Die gesamte restliche Handlung läßt sich dann als Vision eines Sterbenden erklären.

Doch so banal dies klingt, so wenig wird es dem gerecht, was in der „Gegenwart“ des Films geschieht. Hier findet eine tatsächliche Entwicklung des Jacob Singer statt: Er lernt den Tod zu akzeptieren. Den Tod seines Sohnes Gabe, den Tod der Kameraden, schließlich seinen eigenen. Er lernt, daß es die Hölle bedeutet, am Vergangenen festzuhalten, daß die Dämonen, die ihn quälen, die Erinnerungen an Gewesenes sind.

Bis er diesen Punkt erreicht hat, lebt Jacob in einer Zwischenwelt. Er bewegt sich zwischen seinem früheren Leben mit seiner Familie und der einfachen, unreflektierten Existenz an Jezebels Seite. Träume sind die Übergänge zwischen diesen beiden Ebenen. An Jezebels Seite träumt er, er sei bei seiner Familie, und in diesen Episoden scheint - nein: ist! - das Leben mit Jezebel ein Traum.

Die Spätwirkung der Droge - ein Chemiker der Army erzählt ihm, daß sie als „die Leiter“ bezeichnet wurde - läßt die Realität in der geschilderten Weise zersplittern. Und gerade diese Unsicherheit über die Realität, eine Unsicherheit, die im Film an jeder Stelle gegenwärtig ist, macht es nicht einfach, Jacobs Ende im vietnamesischen Lazarett als definitiv real zu identifizieren. Ist das möglicherweise eine Vision, die sich aus den quälenden Erinnerungen an Vietnam entwickelt?

Und: In beiden Aspekten der Gegenwartsebene spielt Jacobs Rückenleiden eine wichtige Rolle. Und in gewisser Weise ist es ein Schlüssel zur Geschichte. Genauer gesagt: Es ist ein Bindeglied zu einer viel älteren Geschichte:


Das Buch der Bücher


Der Drehbuchautor Bruce Joel Rubin hat für den Film (von vielen Kritikern unbemerkt) aus einer alten Quelle geschöpft, nämlich aus der Bibel. Um dies zu verstehen, hier ein Auszug aus Gen 28, 11-19:
„Und Jakob zog aus von Beerseba und ging nach Haran. Und er gelangte an einen Ort und übernachtete daselbst; denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen von den Steinen des Ortes und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich nieder an selbigem Orte. Und er träumte: und siehe, eine Leiter war auf die Erde gestellt, und ihre Spitze rührte an den Himmel; und siehe, Engel Gottes stiegen auf und nieder an ihr. (...) Und Jakob erwachte von seinem Schlafe und sprach: Fürwahr, Jahwe ist an diesem Orte, und ich wußte es nicht! Und er fürchtete sich und sprach: Wie furchtbar ist dieser Ort! Dies ist nichts anderes als Gottes Haus, und dies die Pforte des Himmels. Und Jakob stand des Morgens früh auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und stellte ihn auf als Denkmal und goß Öl auf seine Spitze. Und er gab selbigem Orte den Namen Bethel; aber im Anfang war Lus der Name der Stadt.“

Und weiter heißt es in Gen 32, 25-32:
„Und Jakob blieb allein übrig; und es rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte aufging. Und als er sah, daß er ihn nicht übermochte, da rührte er sein Hüftgelenk an; und das Hüftgelenk Jakobs ward verrenkt, indem er mit ihm rang. Da sprach er: Laß mich los, denn die Morgenröte ist aufgegangen; und er sprach: Ich lasse dich nicht los, du habest mich denn gesegnet. Da sprach er zu ihm: Was ist dein Name? Und er sprach: Jakob. Da sprach er: Nicht Jakob soll hinfort dein Name heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gerungen und hast obsiegt. Und Jakob fragte und sprach: Tue mir doch deinen Namen kund! Da sprach er: Warum doch fragst du nach meinem Namen? Und er segnete ihn daselbst. (...) Und die Sonne ging ihm auf, als er über Pniel hinaus war; und er hinkte an seiner Hüfte.“

Der biblische Jakob, Enkel Abrahams und Sohn Isaaks, der später den Namen Israel erhält und zwölf Söhne hat (auf die die zwölf Stämme des Volkes Israel zurückgehen), hat also zwei einschneidende Erlebnisse: Er sieht im Traum eine Leiter, auf der die Engel auf und ab gehen und die zum Himmel führt. Und er ringt die ganze Nacht mit einem Unbekannten, einem Engel oder einer Manifestation Gottes, und dieser verrenkt ihn.

Die biblische Leiter begegnet im Film einmal als Name der Droge, die ihre Opfer aus der Realität herausführt. Und sie zeigt sich gegen Ende als Treppe, auf der Jacob zusammen mit seinem verstorbenen Sohn Gabe zu einem überirdischen Licht hinaufsteigt. Fast unnötig zu erwähnen, daß „Gabe“ die Kurzform von „Gabriel“ ist, also der Name eines Erzengels. Der Ort, an dem der biblische Jakob von der Himmelsleiter träumt, heißt Lus, ehe Jakob ihn in Beth-El umbenennt.

Ich halte es nicht für einen Zufall, daß Jacobs Chiropraktiker „Louis“ heißt, nach dem Ort, an dem Engel ihre Leiter aufgerichtet haben. Im Film sagt Jacob einmal zu ihm, daß er aussehe wie ein Engel. Und es ist auch keineswegs ein Zufall, daß Jacob an einer chronischen Verrenkung leidet. Der Engel Louis hilft ihm damit zu leben, daß er von Gott gezeichnet wurde.

Nimmt man diese biblische Dimension der Geschichte zur Hilfe, kommt man zu dem Schluß, daß Jacob Singer einen Entwicklungsprozeß durchmacht, der ihn schließlich zu seiner persönlichen Erlösung führt. Ob die Droge nun tatsächlich existiert oder eine geistige Hilfskonstruktion des delirierenden Jacob ist - die Leiter führt in den Himmel, zum Frieden, den Jacob mit sich und den Dingen macht. Und daß er seinen Sohn wiedertrifft, ist ein Symbol dafür, daß nun alles gut ist. Wer ihm wirklich auf diesem Weg hilft, das ist Louis. Er spricht zu Jacob über die Dämonen, über das Loslassen, er ringt mit ihm und - so könnte man es sehen - segnet ihn, indem er seinen Schmerz beseitigt. An Louis Worte erinnert sich Jacob später im Dunkel der Familienwohnung, und als er sie akzeptiert, ist schließlich Gabe da und nimmt ihn an die Hand.

Eine andere Bibelstelle hilft die Figur der Jezebel zu deuten - Offb 2,20-23:
„Aber ich habe gegen dich, daß du Isebel duldest, diese Frau, die sagt, sie sei eine Prophetin, und lehrt und verführt meine Knechte, Hurerei zu treiben und Götzenopfer zu essen. Und ich habe ihr Zeit gegeben, Buße zu tun, und sie will sich nicht bekehren von ihrer Hurerei. Siehe, ich werfe sie aufs Bett, und die mit ihr die Ehe gebrochen haben in große Trübsal, wenn sie sich nicht bekehren von ihren Werken, und ihre Kinder will ich mit dem Tode schlagen.“

Auf diese Bibelstelle geht der Wortgebrauch von „Jezebel“ als Synonym für „Hure“ zurück, wie er in den amerikanischen Südstaaten anzutreffen ist. Und im Lichte dieser Stelle erscheint die Jezebel im Film überraschend negativ. Ist sie denn nicht rührend um Jacob besorgt, als der in ein lebensgefährliches Fieber fällt? Versucht sie nicht, ihm quälende Erinnerungen an seine Familie zu ersparen?

Nun, wie man‘s nimmt. Jezebel steht vor allem zwischen Jacob und seiner Vergangenheit. Genauer gesagt: Sie steht zwischen ihm und seiner Familie. Das wird an verschiedenen Stellen deutlich. Als sie ein Foto von Jacobs Frau sieht, hat sie sofort eine abfällige Bemerkung bereit. Als er beim Anblick eines Fotos von Gabe in Tränen ausbricht, sammelt sie alle Familienbilder ein und vernichtet sie. Den kleinen Gabe nennt sie ziemlich herzlos nur „den Toten“. Und mit ihren Bemühungen, Jacob aus seinem Fieber zu befreien, holt sie ihn aus der Traumebene, in der er bei seiner Familie ist und sein Sohne Gabe noch lebt.

Dabei ist Jacobs Familie das einzige friedliche und einigermaßen geborgene Umfeld im Film. Seine Frau und seine Söhne besuchen ihn im Krankenhaus, in dem er Horrorszenen erlebt hat - Jezebel ist dort nicht zu sehen.


Versuch einer Deutung


Wenn wir einmal die Rahmenhandlung in Vietnam außer acht lassen, lebt Jacob Singer im Spannungsfeld einer Entscheidung zwischen Himmel und Hölle. Er befindet sich sozusagen im Fegefeuer.

Auf der einen Seite stehen die Dämonen, die ihn im unreflektierten Diesseits mit seinen Horrorszenen und Gewaltakten festhalten möchten: Jezebel, die Regierungsagenten, die verstörenden Erscheinungen, ja selbst der Weihnachtsmann, der ihm seine Brieftasche mit dem letzten Foto von Gabe stiehlt. Sie sind bestrebt, ihn von Erinnerungen zu trennen, ihn davon abzuhalten, seine Situation zu erkennen und zu akzeptieren.

Auf der anderen Seite stehen die Engel und ihre Helfer: Gabe, der heißt wie der Erzengel Gabriel. Louis, den Jacob selbst als Engel bezeichnet. Sein anderer Sohn Eliah, der ihm die Familienfotos bringt (in der Bibel ist der Prophet Elias ein wortgewaltiger Kämpfer gegen den Baalskult, der das Volk Israel an seinen wahren Gott erinnert).

Zwischen diesen Polen muß Jacob seinen Weg finden. Wie der biblische Jakob hat er mit den Menschen und den überirdischen Kräften gerungen und ist dabei verletzt worden. Und wie der biblische Jakob hat er die Leiter gesehen, auf der die Engel in den Himmel steigen. An Gabes Hand geht er schließlich diesen Weg. Das, was dem Zuschauer zunächst als pessimistisches, trauriges Ende erscheint, ist eigentlich Jacobs Erlösung.

Als kleinen Denkanstoß möchte ich hier noch den Text des Liedes zitieren, das während des Films immer wieder als Gabes Leitmotiv anklingt:

Sonny Boy

When there are gray skies
I don't mind those gray skies.
You make them blue, sonny boy.
Friends may forsake me.
Let them all forsake me.
I'll still have you, sonny boy.

You're sent from heaven
And I know your worth.
You've made a heaven for me
Right here on earth.
God bless you!
When I'm old and gray dear
Promise you won't stray dear.
I need you so, sonny boy!


**** Entwarnung: Ende der Spoiler ****


Der Film als Film


Für mich war es vor allem eine Überraschung, als ich im Abspann den Regisseur des 1990 gedrehten Streifens wahrnahm: Adrian Lyne ist nicht gerade als Macher anspruchsvoller Werke bekannt, sondern hat uns vor allem Sternstunden der Oberflächlichkeit wie „Flashdance“, „9 1/2 Wochen“ oder „Ein unmoralisches Angebot“ beschert. Daß ausgerechnet er sich an die Verfilmung des zuvor zwar vielfach gelobten aber dann doch nicht realisierten Drehbuchs machte, ist verblüffend. Und es ist ein Glücksfall.

Der Film ist weitgehend unprätentiös inszeniert. Spezialeffekte werden nicht um ihrer selbst willen zelebriert, sondern kommen meist ganz nebenbei ins Spiel, fügen sich in die Atmosphäre und den Erzählfluß der Handlung ein. Die Szenerie ist stimmungsvoll, atmosphärisch dicht, aber immer realistisch. Es wird mit Licht und Perspektive nicht herumgespielt, sondern sie werden sparsam und konsequent zur Unterstützung der Handlung eingesetzt.

Die einzige Ausnahme mag hier die irre Horrorfahrt durch das Krankhaus bilden. Hier hat man eine Ahnung davon, warum der Film kurzzeitig auch unter dem Alternativtitel „Dante‘s Inferno“ gezeigt wurde.

Seinen Schauspielern hat Lyne offenbar verordnet, so normal und alltäglich wie möglich zu agieren. Und sie sind gut ausgewählt: Tim Robbins als harmloser, in sich gekehrter Intellektueller, Elizabeth Pena als nett und nett und liebevoll wirkende und doch zielstrebig im eigenen Interesse agierende Jezebel, Patricia Kalember als Jacobs verlassene und ihn nach wie vor liebende Frau Sarah, Macaulay Culkin noch völlig unverbraucht als Jacobs Sohn Gabe. Und schließlich Danny Aiello als Louis - er ist tatsächlich die Inkarnation des Engels, des verständnisvollen, fürsorglichen Freundes. Sie alle stellen sich in den Dienst der Geschichte und verzichten darauf, sich in den Vordergrund zu spielen.

Das tut dem Film gut, denn schon die Story ist kompliziert genug. Ich kann nur empfehlen, sich den Film einmal ohne große Reflektion anzusehen, ihn dabei einfach wirken zu lassen. Dann sollte man ihn nach ein bis zwei Wochen noch einmal sehen - und dabei auf Details, Zusammenhänge und Andeutungen achten.

Ganz gleich, wie man‘s macht, es ist in jedem Fall ein Genuß. „Jacob‘s Ladder“ ist schwer einzuordnen, aber wer beispielsweise von „The 6th Sense“, „Donnie Darko“ oder meinetwegen auch „Vanilla Sky“ fasziniert war, der wird sich auch von „Jacob‘s Ladder“ berühren lassen. Und dabei feststellen, daß Lyne 1990 Maßstäbe gesetzt hat.

Alles in allem ein Film, der den Zuschauer noch ein ganze Weile begleitet. Übrigens auch akustisch - ich habe immer noch die Melodie von Gabes Spieluhr im Kopf, die sich mit „Sonny Boy“ klar gegen die zweifellos gute Filmmusik von Maurice Jarre durchsetzt.


DVD


Wen es interessiert: Ich habe den Film auf DVD gekauft (er ist auch auf VHS erhältlich). Die Scheibe ist zur Zeit ausgesprochen günstig zu haben - ich kann deshalb nur eine dringende Kaufempfehlung aussprechen. Bild (PAL 1,85:1) und Ton sind gut (deutsch. Stereo 2.0, englisch 5.1, spanisch mono). Außer dem 108 Minuten langen Film, Untertiteln in 10 Sprachen und einem Trailer ist nichts enthalten, aber ich habe auch nichts vermißt. Für mich zählt bei einer DVD der Film, und damit wird man hier bestens bedient.

Übrigens ist dies ein Film, den man wirklich kaufen und nicht bloß ausleihen sollte, denn man wird immer wieder auf ihn zurückkommen.


P.S.: Diese Rezension wurde auch anderweitig veröffentlicht. Die Rechte daran liegen in allen Fällen ausschließlich bei mir.