Tod im Kräuterbeet
Martha Grimes - Die Frau im Pelzmantel
Es war mein erster Jury-Roman, mein erster Roman von Martha Grimes überhaupt - und doch stand nach den einleitenden Kapiteln schon fest, daß ich hier eine neue Entdeckung für mich gemacht hatte.
Worum geht's? Superintendent Richard Jury fährt mit dem Bus durchs abendliche London. Da fällt sie ihm auf: eine attraktive Frau im Pelzmantel, die sich sehr auffällig verhält. Sie verläßt den Bus, überholt ihn zu Fuß in einem Stau, steigt wenig später wieder ein, steigt wieder aus. Jury ist aufmerksam geworden und folgt ihr bis zum Eingang eines Parks. Dort zögert er, mit sich selbst unklar über seine Motive, kehrt um - und bereut das am nächsten Tag, als er hört, daß im Park eine Tote gefunden wurde. Bekleidet mit einem Pelzmantel.
Nun folgt ein Verwirrspiel, das so reich an absurden Zufällen ist, daß Jury mit größtem Recht mehr als einen simplen Mord vermutet. Und richtig: Die kleine Linda, die die Tote findet, ist die Enkelin der Frau, einer Schauspielerin, der früher einmal der Mantel gehörte. Eine undurchsichtige Rolle spielt die Galeristenfamilie Fabricant, mit der die Altdarstellerin verwandt ist und die den Mantel weiterverkaufte. Als die Tote endlich identifiziert ist, entdeckt man in ihrer Wohnung etliche hochwertige Gemälde, die teilweise bei der Galerie Fabricant gekauft wurden. Und vollends verstört ist Jury, als er durch Zufall genau die Frau wiedertrifft, die er im Bus gesehen hat - lebend! -, die aber vehement bestreitet, an jenem Abend an jenem Ort gewesen zu sein.
Ausgehend von diesem dicken Knoten von Handlungsfäden, aus unwahrscheinlichen, aber zu keinem Zeitpunkt konstruiert wirkenden Zufällen geschnürt, hätte Martha Grimes nun einen durchaus spannenden, dabei konventionellen Krimi entwickeln können. Sie tut es nicht, sondern läßt Melrose Plant auftreten. Plant ist mit Jury befreundet, verkörpert aber als Romanfigur viele Eigenschaften und Verhaltensweisen, die zu denen Jurys im starken Kontrast stehen: Jury ist der nüchterne, faktenorientierte, zuweilen sehr trocken scheinende Ermittler, der sich allein von dem leiten läßt, was er mit eigenen Augen gesehen hat - Sinnbild des technokratisch orientierten Funktionsträgers. Plant dagegen, Sproß aus altem Adelsgeschlecht, ist eine rundum schillernde Persönlichkeit. Wohlhabend, spleenig, kunstsinnig tritt er auf, verzichtet dabei auf jeden Standesdünkel (seine zahlreichen Titel hat er abgelegt und benutzt sie nur hin und wieder noch als Türöffner in der besseren Gesellschaft) und fühlt sich sogar wohl im kleinbürgerlichen bis sozial benachteiligten Milieu - zumindest solange er in absehbarer Zeit daraus wieder flüchten kann.
Mit Melrose Plants Eintritt in die Geschichte wandelt sich der Roman vom Allerwelts-Krimi zur Ansammlung amüsanter und liebevoll gezeichneter Charakterskizzen und Milieustudien. Dies zeigt sich sehr schön überall dort, wo Plant Orte und Menschen besucht, die auch Jury angetroffen hat: Ob es um die Besuche bei Linda und ihrer Großmutter geht, bei den Fabricants oder am Tatort - die Schilderung der Personen und Orte unterscheidet sich jeweils ganz erheblich. Martha Grimes gelingt es hier, den Leser in teilweise exakt parallel konstruierten Abläufen tatsächlich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven auf die Dinge und Menschen schauen zu lassen. Dieser Kunstgriff gibt ihr die Möglichkeit, die handelnden Personen viel deutlicher zu charakterisieren, als es durch eine simple Beschreibung möglich wäre.
Natürlich lösen Jury und Plant den Fall gemeinsam, indem sie jeweils ihre Eigenheiten und die Möglichkeiten ihrer gesellschaftlichen Position einsetzen. Und natürlich löst sich der Handlungsknoten auf recht überraschende Weise auf. Erfreulicherweise nicht in der Weise überraschend, wie es der deutsche Fernsehkrimi gerne durchexerziert - daß der Unverdächtigste zum Schluß als Täter entlarvt wird. Nein, bei Martha Grimes gibt es immer wieder Hinweise, eingestreute Indizien, anhand derer sich auch der Leser kriminalistisch betätigen kann und doch mit unvorhergesehenden Wendungen konfrontiert wird. Zur Aufklärung des Sachverhaltes gelangt er dabei in etwa dem gleichen Tempo wie die Protagonisten und erhält dabei zuweilen auch Gelegenheit, ein Stück voraus zu sein.
Man hat Martha Grimes mehrfach mit Agatha Christie verglichen - und genau hier zeigt sich auch die Gemeinsamkeit der beiden Autorinnen und ihrer Werke: in der Art und Weise, den Leser zum Mit-Ermittler zu machen. Ebenfalls an A. Christie erinnert die Farbigkeit der Milieuschilderungen. Dort, wo sie am schönsten sind, sind diese Schilderungen an Melrose Plant gebunden. Sein Aufenthalt in einem Londoner Herrenclub, seine Galeriebesuche, seine Gespräche mit einem alten Kunstkritiker, die Begegnung mit einer befreundeten Malerin, die faszinierend-abstoßende, aber nicht unsympathische Familie aus einem sozialen Brennpunkt, die zänkisch-anheimelnde Pseudoidylle in Plants Heimatort - all dies ist prall, liebevoll und detailreich erzählt. Eine wahre Wonne!
Jurys Perspektive fällt dagegen schon so stark ins sachlich-trockene ab, daß (wohl nicht ganz unbeabsichtigt) eher Melrose die Hauptfigur des Romans ist. Zumindest was die erzählerische Verve Martha Grimes betrifft - die kommt immer nur in Plants Begleitung so richtig zum Vorschein. Jury erfüllt seine Rolle als Faktensammler, Plant bringt Farbe ins Spiel.
Ich kann den Roman uneingeschränkt empfehlen. Nicht nur, weil er ein gut durchkonstruierter Krimi mit einiger Spannung ist, sondern weil er auch ein nicht zu unterschätzendes Lesevergnügen bereitet - ganz unabhängig davon, ob man nun Kriminalromane mag oder nicht.
Was ich allerdings reichlich unverständlich finde, ist der Umgang des Verlags-Lektorats mit der zentralen Figur Jury: Mehrfach im Umschlag- und Klappentext (der Hardcover-Ausgabe) wird Jury als „Inspektor“ bezeichnet. Dabei ist er Superintendent und beschwert sich sogar an einer Stelle darüber, daß ihn viele Leute „zum Inspektor degradieren“. Mag sein, daß es sich hier um einen running gag handelt, den ich aufgrund meiner Unkenntnis der zuvor erschienenen Jury-Bände nicht erkennen kann - im Klappentext hätte der Verlag hier exakt sein müssen.