Weihnachtsbraten mit Leichengeruch


Patricia Cornwell - Die Tote ohne Namen



Weihnachtsstimmung, ein krimineller Sheriff, eine unbekannte Tote im Central Park, ein irrer Massenmörder und eine kluge Gerichtsmedizinerin - eigentlich die besten Zutaten für einen schaurig-blutigen Krimi-Cocktail. Eigentlich. Das Ergebnis ist trotzdem überraschend flau und farblos geraten.

Der Name Patricia Cornwell begegnete mir zum ersten Mal in einer Fernsehreportage über die sogenannte „Body Farm“ in Richmond, Virginia, wo forensische Pathologen auf einem abgesperrten Waldgrundstück Leichen in den verschiedensten Situationen bei der Zersetzung beobachten und daraus einen großen Nutzen für ihre Arbeit ziehen. Cornwell wurde als Autorin mit hoher Affinität zur Forensik vorgestellt, die auch schon über die „Body Farm“ geschrieben hat.

Ich fand das sehr interessant und vielversprechend. Als kürzlich im Katalog eines Rack Jobbers (also Weltbild, Jokers, Akzente o.ä.) „Die Tote ohne Namen“ als preiswertes Mängelexemplar angeboten wurde, habe ich zugeschlagen.

Die Story fängt tatsächlich vielversprechend an: Die Führungsspitze der Richmonder Polizei ist gemeinsam mit Dr. Kay Scarpetta, der leitenden Gerichtsmedizinerin, am Heiligabend auf Geschenketour zu den Armen der Stadt. Und recht bald wird aus dem kitschig-verlogenen PR-Rummel blutiger Ernst. Der korrupte Sheriff erschießt im Streit einen Drogendealer und wird verhaftet. Kurz darauf schlägt die Meldung ein, daß Temple Gault, ein psychotischer Serienmörder und langjähriger Intimfeind von Scarpetta, wieder ein Opfer gefunden hat - eine unbekannte junge Frau, die unbekleidet nahe des New Yorker Central Park aufgefunden wird. Dr. Scarpetta läßt den geplanten Weihnachtsurlaub sausen und macht sich gemeinsam mit einem befreundeten Polizisten und dem FBI auf Verbrecherjagd.

Was nun folgt, ist teilweise zäh, teilweise unglaubwürdig und bleibt immer sehr an der Oberfläche. Wer erwartet, daß nun im Stil einer der besseren „Quincy“-Folgen die Gerichtsmedizin und ihre Erkenntnisse den Schlüssel zum Fall bieten, der hat sich sehr getäuscht.

Genau das, was den Reiz der Hauptfigur ausmacht, nämlich ihre gerichtsmedizinische Tätigkeit, bleibt farbloses Beiwerk. Statt dessen sind es die Familienquerelen und die persönliche Situation Scarpettas, die in erschöpfender Breite abgehandelt werden (und dabei trotzdem holzschnittartig und schwach motiviert scheinen): Dr. Scarpetta geht vollkommen in ihrer Arbeit auf (Klischee Nr. 1), findet keine Zeit für ihre Familie (Klischee Nr. 2), kann vor lauter staatstragender Wichtigkeit ihre sterbende Mutter nicht besuchen (Klischee Nr. 3), trägt mit der (dafür leider nur zur Verfügung stehenden) Nichte einen sauberen, amerikanischen Mutter-Tochter-Konflikt aus (Klischee Nr. 4) und hat ein Verhältnis mit einem, natürlich verheirateten, hohen FBI-Beamten (Klischee Nr. 5).

Ihr überragendes medizinisches Fachwissen demonstriert sie vor allem durch gekonntes „Name-Dropping“. Als typisch amerikanische Freizeit-Freudianerin stellt sie am laufenden Band fest, daß der Täter „dekompensiert“. Derweil mordet sich dieser gerissen, fleißig und wahllos weiter durch die winterliche Landschaft. Hier und da fallen dann weitere medizinische Fachvokabeln, und profilieren kann sich Dr. Scarpetta vor allem dann, wenn sie auf heillos dumme oder hoffnungslos überforderte Kolleginnen und Kollegen trifft.

Etliche Handlungsstränge wirken außerordentlich bemüht und dienen vorwiegend dazu, die unglaubliche Reputation von Dr. Scarpetta zu demonstrieren. Sie kennt hohe Tiere in Forschungsstellen der US-Army, hat aber keine Skrupel, sie zum Vertrauensbruch zu überreden und sie dann einfach hängenzulassen - der Handlungsstrang wird nicht weiter verfolgt. Ihr Lieblingspolizist ist Rassist, aber selbstverständlich eine Seele von Mensch. Sein daraus resultierender Konflikt mit dem neuen Polizeichef wird als kurzes Strohfeuer abgebrannt, interessiert danach aber niemanden mehr. Ihr Geliebter vom FBI muß einen dekorativen Abschnitt lang Gewissensqualen wegen seiner Frau durchstehen, dann ist dieser Konflikt ebenso sang- und klanglos vom Tisch.

Überhaupt sind Probleme anscheinend nur dazu da, um kurz und sensationsheischend aufgebaut zu werden. Danach sind sie ganz schnell erledigt. Die Eltern des Mörders weigern sich beispielsweise seit Jahren standhaft, mit den Behörden zusammenzuarbeiten. Dr. Scarpetta fährt einmal hin, spaziert auf den Hof, und schon schütten die beiden Leutchen umfänglich ihr Herz aus. Allerliebst!

Ja, so toll ist Dr. Scarpetta eben. Und nicht nur sie allein: Ihre Nichte Lucy - sportlich, hübsch, jung und eine Intelligenzbestie - hat selbstverständlich als Studentin bzw. Praktikantin das hochgeheime und ausgefuchste Computernetz des FBI mit aufgebaut und spaziert bei Tag und Nacht unkontrolliert im Rechenzentrum ein und aus.

Zum Schluß wird der Fall irgendwie nebenbei gelöst, ein wenig Gefahr kommt ins Spiel, geht ebenso schnell wieder vorbei, und das war's dann. Dabei böte allein der Schauplatz des Showdowns Stoff für mehr als einen wirklich spannenden Thriller.

Mein Fazit: Patricia Cornwell schreibt ihren Stiefel runter, bringt zuweilen hinlänglich Spannung ins Spiel, bleibt aber ansonsten vollkommen an der Oberfläche. Die Personen handeln wie Abziehbilder, ein totes Motiv reiht sich ans andere, der Plot wirkt wie aus dem Baukasten zusammengestoppelt. Die Schauplätze haben kein Colorit, Handlungsweisen werden höchstens mit einer Prise Küchenpsychologie motiviert, und zum Schluß reitet alles in die untergehende Sonne, dem nächsten Abenteuer entgegen.

So sieht ein Kriminalroman aus, der ohne weiteres als Übungsaufgabe in einem Abendschnellkurs für „creative writing“ entstanden sein könnte.