Fingerübungen


Michael Chabon - Ocean Avenue



In dieser Sammlung von Kurzgeschichten bearbeitet Chabon immer wieder sein Lieblingsthema: Menschen zu zeigen, die an entscheidenden Punkten ihres Lebens stehen. Dabei geht es weniger um die Wahl zwischen Handlungsalternativen, sondern meist um die Frage, ob die dargestellten Personen tatsächlich handeln und sich damit verändern möchten oder ob sie in ihrer Routine verharren werden.

Chabon schildert seine Protagonisten leidenschaftslos, nüchtern, zuweilen ohne merkliche Sympathie. Es ist eher die Sicht des Chronisten - selbst dann, wenn er in der 1. Person schreibt. Die Kurzgeschichten entbehren daher auch größtenteils jedes epischen Ansatzes, sondern sind knappe Situationsschilderungen mit offenem Ende. Zuweilen scheinen sie wie Fingerübungen oder Seiten aus einem literarischen Skizzenblock.

Eine echte Entwicklung über einen längeren Zeitraum schildert Chabon lediglich im zweiten Teil der Sammlung. Hier finden sich fünf Kurzgeschichten, die das Auseinanderbrechen einer Familie aus Sicht des jugendlichen Nathan Shapiro zeigen. Der Autor begleitet Nathan über mehrere Jahre hinweg und zeigt jeweils in blitzlichtartigen Momentaufnahmen einzelne Szenen, die jeweils aus der Spannung zwischen Beharren und Veränderung leben.

Alles in allem scheint die Sammlung eines jener typischen zweiten Bücher zu sein, die aus der Sicht des Verlages nach einem grandiosen Erstlingserfolg so schnell wie möglich auf den Markt müssen. Daraus wird selten ein großer Wurf - auch nicht in diesem Fall. Interessant zu lesen sind die Geschichten trotzdem: Man kann hier das schriftstellerische Instrumentarium des Autors besichtigen, und man erkennt deutlich, daß er sich in der langen Form des Romans bei weitem besser entfalten kann.