Basine


Es war in einem Sommer, spät in den 80er Jahren, da traf ich sie zum ersten Mal. Sie hieß Ulrike, hatte schnell den Spitznamen „Basine“ weg - warum auch immer - und stammte vom Land; von dort, wo das Land besonders flach und übersichtlich ist.

Ich lebte seinerzeit in einer Wohngemeinschaft. Wir teilten uns zu acht Studenten ein kleines Stadthaus aus den 20er Jahren. Marode Bausubstanz, hohe Decken, windschiefes Dach, eine ewig gluckernde Heizung und ein mehr wildromantischer als gepflegter Garten. Basine zog hier während der Semesterferien ein, nachdem sie wegen irgendwelcher Querelen ein Studentenwohnheim der Uni verlassen hatte.

Basine war ein echtes Landei: Blond, drall, trug nachts rotweißkarierte Nachthemden mit Spitzenbesatz, tagsüber gerne dunkle Sweatshirts mit hervorlugendem weißem Spitzenkragen. Ihr Gesicht hatte etwas Kaninchenhaftes - nicht nur wegen der leicht vorstehenden Schneidezähne; auch ihr Blick schien ständig zwischen Vorsicht und Gottergebenheit zu wechseln.

Das Kaff, aus dem Basine stammte, war für sie der Nabel der Welt. Kein Wunder, gehörte ihre Familie doch da zur besseren Gesellschaft. Basines Vater war als Ingenieur bei der Stadt angestellt, vermutlich als Antragsprüfer in einem Amt. Ingenieur, das war aber schon was für Basine. Das war auch was für die Kleinstadtbevölkerung, und so pflegte man gesellschaftlichen Umgang mit einer Industriellenfamilie, deren Gartenartikel-Fabrik der einzige größere Arbeitgeber am Ort war.

Basine hatte schon einmal einen Mann nackt gesehen. Das erzählte sie gerne. Es war der Sohn des Fabrikanten, und mit dem war Basine bereits zweimal verlobt und wieder entlobt. Jedesmal mit vielen Gästen. Bei der Verlobung natürlich nur. Der Bruch kam wohl jeweils dann, wenn Basine sich ausmalte, für immer mit diesem Mann zusammenzuleben. Genau weiß ich es nicht, sie machte immer nur Andeutungen. Bei den Vorbereitungen zu einer dieser Verlobungsfeiern haben sie sich im gleichen Raum bei ihr zu Hause umgezogen, und da hat sie ihn nackt gesehen. Wenn sie davon erzählte, dann war das wie wenn kleine Kinder „Pipi“ und „A-a“ sagen und dabei von ihrem eigenen Mut begeistert und doch auch sehr verlegen sind.

Irgendwann hatte Basine ihre Liebe zum Grün entdeckt. Sie pflegte Zimmerpflanzen zu Tode, jätete ein wenig hinterm Haus, und dann schlug sie vor, ihr Vater solle einen Plan zur Neugestaltung des verwilderten Gartens entwerfen. Der Vermieter war mit der Idee einverstanden. Der Ingenieur vom Lande zeichnete also einen Plan. Der sah vor, die alte Garage abzureißen, die als Abstellraum für Gartengeräte und Hinterlassenschaften ehemaliger Mieter diente. So sollte der Weg von der Straße zum Garten frei werden. Die zweite Veränderung bestand darin, etwa zwei Drittel des Gartens mit Betonsteinpflaster zu belegen, um einen Ausweg aus der Parkplatznot für Bewohner und Gäste des Hauses zu schaffen. Basine verstand nie, warum über den Plan kein Wort mehr verloren wurde. Der Ingenieur vielleicht schon. Vielleicht dachte er aber auch, wir hätten es ihm verübelt, daß er keine Betonpoller eingeplant hatte.

Dabei ging es uns nur um den Garten, die alten Apfelbäume, den abgeknickten Ahorn, das wuchernde Brombeergestrüpp und die zwei verwahrlosten Buchsbaum-Sträucher. Also feierten wir unsere sommerlichen Grillabende weiter in der Wildnis und fühlten uns wohl dabei. Basine ist übrigens die Person, wegen der gewöhnlich davor gewarnt wird, die Glut eines Grills mit der Spiritusflasche in der Hand stärker anzufachen. Eigentlich eine probate Methode in unserer Wohngemeinschaft. Doch als Basine den Grill hüten sollte, geriet plötzlich die Spiritusflasche in Brand, aus der sie beherzt auf die Kohle gespritzt hatte. Auch ein nebenstehender Gartenstuhl brannte. Wir löschten das Feuer bald. Basine weinte den Rest des Abends.

Sie war überhaupt etwas ungeschickt. Eines Abends fiel ihr eine Parkuhr auf den Kopf. Wochen zuvor hatten die Stadtwerke ausgediente Parkuhren für 5 Mark das Stück verkauft. Mehrere von uns hatten sich so ein Deko-Objekt geholt - anfangen konnte nie jemand etwas damit. Basine hatte ihre Parkuhr oben auf den Kleiderschrank gestellt. Beim Versuch, die klemmende Tür mit einem kräftigen Ruck aufzuziehen, geriet der Schrank ins Wackeln, die Parkuhr kippte und traf Basine an der Stirn. Sie saß dann auf ihrem Bett, rauchte ein Zigarette, während ein dünner Faden Blut über ihr Gesicht lief, und war ganz gerührt von der Fürsorge ihrer Mitbewohner.

Diese Zuwendung hatte sie schon nicht mehr erwartet, denn quer durch die Wohngemeinschaft hatte sich zu der Zeit bereits eine Front gebildet. Wir auf der einen Seite, Basine auf der anderen. Basine schürte Streit in der Gemeinschaft. Ganz offen und meist ohne Anlaß. Im Haus wohnte damals ein muskulöser, ewig breit grinsender Balkanier, dessen Hals nicht selten Knutschflecke von sensationellen Ausmaßen schmückten. Er fand das gut, wir gönnten es ihm, nur Basine hatte ziemlich verkniffene Bedenken deswegen. So verbreitete sie, daß er beim Duschen immer „so Zeug“ im Abflußsieb zurücklasse, und sie wisse schon, was das sei. Sie hatte ja auch schon einen Mann nackt gesehen. Der Mann aus dem Südosten tippt sich an die Stirn und grinste weiter, wir nahmen Basine die Angelegenheit übel. So wie viele, die noch folgten.

Wir ärgerten dann Basine, indem wir beispielsweise in ihrer Gegenwart das F-Wort sagten oder uns abfällig über flache Landschaften mit vielen Kühen und wenigen einsamen Gebäuden äußerten. Basine rächt sich, indem sie wildfremden Besuchern des Hauses erzählte, sie hätte in der Unterwäsche eines bestimmten Mitbewohners noch nach dem Waschen Bremsstreifen entdeckt. Und derlei Kindereien von beiden Seiten.

Schließlich zog Basine aus, fast genau ein Jahr, nachdem sie zu uns gestoßen war. Ich habe sie nie wieder gesehen.

Jahre später hatte ich beruflich mit der Fabrik aus Basines Heimatstadt zu tun. Sie war dort gänzlich unbekannt, und einen Sohn oder Erben der Besitzerfamilie gab es nicht. Dafür gab es in dem Ort eine Fußgängerzone mit Betonsteinpflaster. Ich mochte Basine nicht.