Der Tiger springt


Erstveröffentlichung 1985 in einer kleinen privat verlegten Anthologie für einen guten Zweck

Dort nimmt er an, er säße, wo er sitzt, spräche, was er sagt, und erfährt, was ihm zu lernen aufgetragen war. Dort krümmen sich die Finger in ein Ding, das scheint wie Holz - und Plastik ist. Wasser strudelt um die Füße; während Mahrmann präzisiert, erklingen Schläge auf echtes Holz, dröhnt ein Gong, wendet die alte Katze ihr Gesicht auf den Rücken und stirbt. „Mein Fuß kitzelt!” Geza flüstert das dahin, vom Nebenplatz, hebt den Fuß unter sein Holz - das Holz an seinem, dem Nebenplatz - und reibt heftig, schält, grinst, wie nur Geza grinst. Geza zeigt die Zähne, gelbe Zähne, die riechen wie Schachtelhalm und Myrrhe. Mahrmann erläutert fortwährend da vorne Wunder, kratzt gelblich getrockneten Bast von seinen Mysterien und gönnt denen hier den kurzen Blick auf seine Welt. Er, dem es aufgetragen war, er hört weiter auf Mahrmanns Worte, hört auch Geza weiter zu, dieses Schaben unter dem Holz,. und wendet den Blick ...

... sieht diese Ranken zwischen Mauern und Bäumen. Er setzt den Fuß still zur Seite, denn das Wasser stört dort unten, das strudelt wie ein Bach und jeden Schritt sorgsam überlegt sein lassen will. Starre Augen springen ihn aus dem Gesicht der Echse an. Er rutscht über das Moos, fängt sich ein paar Meter dahinter. Unter dem Starren all der Echsen geht er noch Schritte, dann Zentimeter, ein Molekül weit und legt den Kopf an die graue Fläche bei den Ranken, Bäumen und Mauern. Diese Mauern, denkt er, haben ein festgefügtes Bild von ihrer Welt: sie leben. Diese Bäume und Ranken allerdings ... Gezappel, Bewegung, keine Ruhe. Da kann es nichts werden mit dem Leben. Der Gedanke ist tröstlich, darum bleibt er lange Zeit auf seinem Fleck, bewegt sich nicht, nicht einmal den Kopf, läßt seine Finger in dem Holz, hineingekrümmt, und sieht nicht in Gezas Augen. Damals in unserer Zeit als letzte Gäste konnten wir ganze Nächte durchhalten, mit Geza bunte Flüssigkeiten bestellen und trinken. Bis wir auf die Straße mußten, hielten wir unseren Tisch besetzt und machten weite Reisen in die Wälder und in andere Gebäude. Geza führte uns. Er war ein Könner.

Als wenn Mahrmann auch das Wasser sähe, verstärkt er seine Bemühungen, ritzt mit Glasscherben auf Stein, reibt Styropor auf dem großen, hellblauen Löschpapier und präzisiert unentwegt. Den Fingernagel auf der Tafel, droht er plötzliche Bewegungen an. Er lächelt. Alle stören sich daran, außer Geza und Gezas Nachbarn. Der hebt endlich die Stirn von der kühlen Platte unter den Ranken, reißt sie auseinander und trinkt mit seinen Augen das Grün der Bäume. Er wünscht sich Geza zu sich in den Wald. Geza würde hier staunen und doch exakt beschreiben, Geza würde raten und dann wissen. Nur Geza könnte diese Echsen aus dem Wald vertreiben. Doch Geza ist nicht da, macht er sich klar und fühlt sich einsam. Ein Paradiesvogel setzt sich vor ihm auf einen Baumstumpf, rupft mit dem langen Schnabel Federn aus. Nur gelbe liegen danach auf dem Boden. Gelbe Federn mag der Vogel nicht, denkt der einsame Zuschauer und lacht. Erschrocken über dieses tödliche Geräusch, hebt der Paradiesvogel erst den einen, dann den anderen Flügel und kämpft sich durch die Luft davon zum nächsten Stumpf.

Neben ihm, der immer noch zuhört, hat Geza das Kratzen eingestellt. Er sortiert jetzt Stifte, greift über das Holz hierhin und dorthin, legt Ketten, Kreise und Pyramiden. Mahrmann schätzt das nicht, konnte sich nie mit anderem als Mysterien anfreunden. Mahrmann hebt also erneut den Finger und ritzt die Tafel. Scharf und kurz jagt der Nagel darüber hinweg. Alle seufzen auf, gequält, nur Geza lacht dazu. Er hebt den Arm und fegt die Stifte vom Tisch. „Gut, deine Runde”, krächzt er unter weiterem Gelächter, aber Mahrmann hört ihn nicht. Der Raum allerdings hallt wider von dem kurzen Satz, bebt, beult die Wand in Stücken aus, und Betonschollen segeln wie Ascheflocken auf die Hölzer und Menschen. Die Ranken kitzeln sein Gesicht; als er sich endlich zurücklehnt, die Platte im Rücken spürt, mit den Füßen scharrt. Das Wasser ist nur Zentimeter entfernt - der Bach hat jede Bewegung mitgemacht und erinnert nun beharrlich an seine Kraft. Unmutig schwingt einer der Bäume seine Zweige und Blätter. Der einsame Besucher weicht davor zurück, wie er sich zuvor zurückgelehnt hat. Seine Finger suchen Halt in der Platte, doch die ist nur glatt und kalt und weist seine Versuche ab. Holz wäre jetzt gut. Holz wäre sicher richtig, denkt er wieder und wieder. Aber zu diesen Bäumen kann man nicht gehen. Sie sind viel zu unruhig und geistlos. Die Ranken sind zu dünn, auch sie taugen für seine Zwecke nicht.

Seufzend dreht er sich dehalb Mahrmann zu, versucht angestrengt, den Faden in dessen Monolog wieder aufzunehmen, doch es gelingt ihm nicht. Mahrmann ist weit fort von ihm und seinen Gedanken. Er hat das mit der Tafel inzwischen aufgegeben; dafür verstrickt er sich immer weiter in Konsequenz, Stringenz und Evidenz - ein Wahnsinniger unter lauter unbekehrten Normalen. Dort neben dem Fenster läuft ein Streifen Zinnober herab, hält am Mauervorsprung inne, sammelt Kräfte und sendet Tropfen für Tropfen auf den Boden. Unten zerplatzen die Tropfen, teilen sich in neue Tröpfchen. Geza scheint die Tropfen und Tröpfchen anzuziehen. Seine graue Hose ist schon bis an die Knie rot gesprenkelt; das sieht ihm ähnlich! Man wird in Zukunft für Geza denken, das wäre die ideale Strafe und dazu noch genau das, was Mahrmann sich seit ewigen Zeiten wünscht. Vorerst kommt es nicht dazu. Bunt wie damals die Flüssigkeiten, setzt sich der Paradiesvogel wieder in die Nähe des Beobachters. Nun hat sich der Vogel ein neues Spiel ausgedacht: Er reißt sich die Federn büschelweise vom Bauch, danach die Haut, und dann frißt er sich selbst auf - lustig, der Beobachter hält sich den Leib vor Lachen und muß sich wieder an der kalten Fläche stützen. Schließlich kippt das Tier von seinem Baumstumpf und stößt seltsame Laute aus, seltsam wie in jenen Nächten.

Er lacht über dich, denkt der Mensch, der dort sitzt, wo er sitzt, spricht, was er spricht, und erfährt, was ihm zu lernen aufgetragen ist. Die Finger liegen glatt auf dem Kunststoff. Wasser rinnt davon; während Mahrmann lacht, herrscht Stille, das Schweigen lastet schwer, und die alte Katze springt.