Stettiner Suppen



Wieder einmal ein Text aus einer Aktion im ciao.de-Cafe. Das Motto lautete damals (2003) „Verschollene Biographien“


„Scheußlich“ war eines der Lieblingsworte Hanno Stettiners. Scheußlich war auch sein Ende. Doch ich will die Neugier des Lesers nicht vorschnell erfüllen. Leser sind heutzutage verwöhnt genug, da dürfen sie ohne weiteres ein wenig Geduld aufbringen. Geduld soll ja eine Tugend sein. Ist sie nicht. Aber sie diszipliniert. Also gibt es erst später Einzelheiten zu den Umständen, unter denen Hanno Stettiner aus dieser Welt ging.

Geboren wurde der damals noch sehr schmächtige Hanno in Köln, in einem schäbigen kleinen Krankenhaus unweit der Brauerei Sünner. Die Brauerei, die ein mittelprächtiges obergäriges Bier herstellt, ist heute noch an der Kalker Hauptstraße zu finden, etwa fünf Kilometer von der mittlerweile geschleiften Chemischen Fabrik Kalk entfernt. Als Hanno am 10. April 1930 seinen ersten Schrei tat, lag der schwere Duft gekochten Hopfens in der Luft. Hannos Vater trank in eine Kneipe dem Morgengrauen entgegen. Hannos Mutter war umständehalber gezwungen, in einem gekachelten Raum auszuharren, bis sie endlich von der Leibesfrucht befreit war. Danach nahm sie Hanno an die Brust, während eine übernächtigte Krankenschwester lustlos an ihr herumwischte.

Hanno Stettiner wuchs in Armut auf. Der Vater war als Gleisbauarbeiter bei der Reichsbahn beschäftigt. Ihm wurde dafür wenig Geld bezahlt, noch weniger brachte er nach Hause. Die Mutter wusch und putzte bei fremden Leuten. Hanno erlebte also eine freud- und trostlose Kindheit. Freunde des brachialsozialistischen Arbeiterproblemfilms haben solche Kindheiten bereits zu Dutzenden miterlitten: hohle Augen, struppige Haare, aus Wollresten zusammengestoppelter Pullunder, kurze Hose, hängende Socken und auch im Winter Sandalen.

Hanno Stettiner begann erst mit Kriegsbeginn aufzuleben. Der Alltag wurde zum Abenteuer. Mit anderen Kindern trieb er sich im Gewirr brikettrauchgeschwärzter Mauern herum, spielte mit Abfall und Lumpen, während die Erwachsenen Tag für Tag besorgter in ihren morgendlichen Ersatzkaffee starrten. Als schließlich mit dem sich wendenden Kriegsunglück Hannos Schule ausgebombt war, fand er sich Tag für Tag von früh bis spät auf der Straße. Dort traf ihn auch seine Bestimmung, das Glück seines späteren Lebens. Nach einem Angriff teilte die NSV auf der Straße Suppe an die Ausgebombten aus. Hanno stellte sich mit seinen Freunden an, obwohl sie allesamt nicht betroffen waren. Aber eine warme Mahlzeit mehr am Tag nimmt man gerne, wenn man im Wachstum ist. Hanno probierte einen Löffel. „Scheußlich!“ entfuhr es ihm, und er löffelte begeistert weiter. Die Suppe war überhaupt nicht gut, aber sie gab seinem Leben einen Sinn.

Hanno beendete wenige Jahre nach dem Krieg die Schule. Sein Vater war angetrunken vom Trittbrett einer der ersten Straßenbahnen gefallen, nachdem die Kölner Verkehrsbetriebe ihren Dienst in Kalk wieder aufgenommen hatten. Er geriet unter das erste Drehgestell. Zu machen war da nichts mehr, aber der Fahrer versuchte noch eine Notbremsung, als er durch die Schreckensrufe aus dem Wagen aufgeschreckt wurde. Mehrere Gymnasiastinnen auf dem Weg zur Kaiserin-Theophanu-Schule begriffen in dem Moment, warum das Stricken und Häkeln in der Bahn untersagt war. Ihnen war noch zu helfen, während sich Hanno als Halbwaise und seine Mutter als Witwe bezeichnen durften. Das Geld war nicht wesentlich knapper als früher, dafür herrschte bei den Stettiners eine friedfertigere Stimmung.

Seine Lehre als Koch und die spätere Gesellenzeit führten Hanno durch etliche Speisegaststätten seiner Heimatstadt Köln. Als Hannos Mutter 1956 an einer verschleppten Harnverhaltung starb, schlug er das überschuldete Erbe aus und begann eine mehrjährige Wanderschaft durch das allmählich wieder florierende Europa. Es gab viel Bemerkenswertes zu sehen. Frankreich erinnerte ihn wegen der verbreiteten Trunksucht der Einwohner an seinen Vater. Belgien erstaunte ihn, da es sich eine Hauptstadt leistete, deren wesentliche Attraktion die Statue eines pinkelnden Kindes war. In den Niederlanden wurde er als Deutscher mehrfach gründlich verprügelt; von kräftigen, wortkargen Menschen, deren Zielstrebigkeit ihm imponierte. In Italien war es warm, in Spanien noch wärmer, Griechenland und der Balkan schienen ihm unordentlich. Doch überall lernte er die ortsüblichen Suppen zu kochen. Eine scheußlicher als die andere, doch insgesamt eine bemerkenswerte Sammlung ungewohnter Aromen und Konsistenzen.

Zurück in Köln verdingte Hanno Stettiner sich als Suppenkoch im Excelsior Hotel Ernst. Eines Mittags wurde er an einen Tisch gerufen. Dort saß ein sehr beleibter Mensch, der auf seinen Teller deutete. „Die Suppe ist scheußlich!“ Hanno strahlte übers ganze Gesicht. Er setzte sich ungefragt an den Tisch und erläuterte dem Gast seinen Plan, eine Kette von Suppenküchen zu gründen. Ein glücklicher Zufall. Der Gast stellt sich als Iwan Herstatt vor, Privatbankier. Er bat Hanno für den nächsten Tag zu einem Gespräch in seine Büroflucht. Dort stellte Hanno sein für die damalige Zeit noch recht ungewohntes Konzept im Detail vor, Herstatt war begeistert von der Vision des jungen Kochs, weniger von dessen gastronomischen Fertigkeiten. Er finanzierte das Unternehmen.

„Stettiner Suppen“ startete mit zwei Filialen in Köln und Bonn. Die Kölner Niederlassung an er Kalker Hauptstraße, die Bonner an der Friedrichstraße. Das Unternehmen florierte und konnte nach zwei Jahren die stolze Zahl von 24 Suppenküchen vorweisen. 1968, auf dem Höhepunkt der Expansion, waren es 72 Filialen in ganz Deutschland. Bei einer Party anläßlich eines Kongresses traf Hanno Stettiner auf Friedrich Jahn, der ihm ein Tonband mit selbst gesungenen Heurigenliedern verehrte. „Wenn ich meine Hendl so braten tät wie du deine Suppen kochst, könnt ich dicht machen“, gab ihm der gutgelaunte Wienerwald-Chef freundschaftlich auf den Weg.

Doch dem Volk schmeckte es. Die Leute hatten damals noch gelernt, daß man seinen Teller leer ißt, und bei fremdländischen Rezepten wollte niemand als Ignorant gelten. Hanno Stettiner verdankte seinen Erfolg also der avantgardistischen Selbstverpflichtung der 60er und 70er Jahre ebenso wie dem Speiseethos der Nachkriegszeit.

1973 erhielt Hanno Stettiner aus der Hand des Kalker Bezirksbürgermeisters die Verdienstmedaille zum Bundesverdienstkreuz. Ein Jahr später wurde er vom Erfolgsduo Schobert und Black besungen („Nein, ich esse meine Suppe nicht“, zweistimmiger Kanon). Er war Gast bei den einigermaßen Schönen, Reichen und Berühmten, weitaus seltener ihr Gastgeber. Lediglich von Willy Brandt wird berichtet, daß er sich hin und wieder in die Friedrichstraße fahren ließ, um seine proletarischen Wurzeln zu stärken.

1974 war es damit vorbei. Nicht nur, weil Brandt nicht mehr in Bonn wohnen mußte, sondern auch, weil Iwan Herstatts Bank Konkurs anmeldete. Das gesamte liquide Vermögen von „Stettiner Suppen“ war verloren. Hanno versuchte zu retten, was zu retten war, vergebens. Eine Weile hielt er sich mit Lieferantenkrediten über Wasser, doch kurz vor Weihnachten 1974 veröffentlichte der „Spiegel“ einen investigativ recherchierten Artikel über die Arbeitsbedingungen in den Suppenküchen, die FAZ zog mit einer vernichtenden Darstellung der Finanzsituation nach. „Scheußlich!“ titelte die Bildzeitung am Dreikönigstag 1975.

Hanno Stettiner war ein gebrochener Mann. Vergebliche Bemühungen um die Kantinenpacht bei Stollwerck und beim Druckhaus Dumont folgten, ein Schnellimbiß an der Venloer Straße kam nie aus den roten Zahlen. Hin und wieder wurde er noch zu Geselligkeiten eingeladen. Einmal sogar bei Gunter Sachs, dem er vor Jahren einen Kieferorthopäden empfohlen hatte. Doch auch das hörte auf.

Im Spätherbst 1976 beschloß Hanno Stettiner, seinem Leben ein Ende zu machen. Er besuchte zuvor noch den nicht wenig überraschten Heinrich Böll, bei dem er eine umfassende Beichte ablegte (Böll verarbeitete das kurz danach in dem von Abiturienten häufig fehlinterpretierten Schulbuchtext „Peinliches Gespräch um Neun“). Dann, in den Abendstunden des 14. November 1976, ließ Hanno sich von einem Taxi zum Kölner Dom fahren. Da der Dom geschlossen war, stürzte er sich auf gut Glück kopfüber von der Domplatte auf den Bahnhofsvorplatz, wo er vor den Augen etlicher Obdachloser am Fuß einer Waschbetontreppe verstarb. Es wird aus gewöhnlich gut unterrichteten, aber nicht ganz zuverlässigen Quellen berichtet, daß kurz danach Brigitte Mira dort ihren Hund zum Urinieren führte und erst beim Ausbleiben des sonst gewohnten vollstrahligen Plätscherns wahrnahm, worauf sich die kleine Töle erleichtert hatte. Die Charakterdarstellerin soll dabei Brechreiz empfunden haben.