Sprung in die Tiefe



Erstveröffentlichung in: Wolfgang Jeschke (Hg.), Wassermanns Roboter, Heyne, München 1988, ISBN 3-453-02768-X


An diesem Abend war es wieder besonders schlimm. Wir saßen im Garten eines Freundes und redeten über Gott und die Welt. In den Ästen über den grüngestrichenen Holztischen schwankten bunte Lampions und drehten sich in der leichten Brise. Das gute Bier vom Faß tat sein übriges, und mit jedem Mal, wenn ich aufstand, um noch ein weiteres Glas zu zapfen, fühlte ich den weichen Boden stärker schwanken. Als ich an meinen Platz zurückkehrte, fand ich dort einen Fremden vor.

»Hallo!« sagte ich, freundlich, wie man nur im Suff zu jedem freundlich ist. Er nickte mir zu, und ich ließ mich schwer in einen der wackligen Klappstühle fallen. Mein Freund hat einen großen Bekanntenkreis. So wunderte ich mich nicht über den Unbekannten, sondern verwickelte ihn in eins dieser nutzlosen Gespräche, in denen alles möglich und sagbar wird.

»Was halten Sie vom ewigen Leben?« fragte der Fremde plötzlich, nachdem wir bereits eine Menge bierseliges Gerede von uns gegeben hatten.

»Oh ja, ich war schon immer religiös.« Der Satz gefiel mir, und ich nahm mir vor, ihn später wieder zu gebrauchen.

»Unsinn, doch nicht das! Ich meine richtig ... so richtig ewig leben.« Der Kerl war betrunkener als ich, dachte ich und war zugleich stolz auf meinen geschärften Verstand.

»Gibt's nicht«, stellte ich fest. Ich hoffte, er würde mir jetzt nicht seine Lebensgeschichte vortragen, und tatsächlich verschonte er mich damit. Er lachte nur und sah mich merkwürdig von der Seite an. Vielleicht erwähnte ich bereits, daß ich mich nicht gerne so von der Seite ansehen lasse, aber in diesem fortgeschrittenen Stadium ging ich großzügig darüber hinweg.

»Ich biete Ihnen eine Demonstration an«, sagte er dann. »Eine Vorführung sozusagen, völlig gefahrlos und sehr anschaulich.«

Ich mußte mich verhört haben. »Wissen Sie was?« sagte ich. »Entweder Sie spinnen, oder Sie sind völlig blau!«

»Meinetwegen. Kommen Sie morgen nachmittag zur Domplatte. Ich sitze jeden Tag vor dem Domhotel und bereite mich vor.«

Ich erinnere mich heute nicht mehr daran, ob an diesem Abend noch weiter über dieses Thema gesprochen wurde, denn ich war am Ende so betrunken, daß mir der weitere Verlauf nur noch verschwommen in Erinnerung blieb.




Natürlich ging ich nicht hin. Am Tag nach dem Gartenfest war mir nicht nach Sensationen, eher nach Alka Seltzer und Prärieauster. Trotzdem spukte mir das Ganze weiter im Kopf herum. Eine Demonstration der Ewigkeit! Es war viel zu hirnrissig, um wahr zu sein, aber vielleicht gab es Stoff für eine Story oder ein paar blöde Bemerkungen in der Studentenzeitung, an der ich zu dieser Zeit mitarbeitete.

Drei Wochen später war ich in der Stadt, hatte einige Platten gekauft und streunte auf der Suche nach einem Glas Bier umher. Der Teufel muß mich geritten haben, daß ich schließlich am Dom landete. Ich weiß es nicht.

Eine Menge Touristen liefen zu Füßen der mächtigen Kathedrale herum und versuchten den Bau in ihre winzigen Kameras zu zwängen. Die vollbusige Andenkenverkäuferin lehnte über dem Tresen ihrer winzigen Bude. Neben ihr drehte der Rentner die Trommel für die Dombaulotterie.

»Vorsicht!« Um ein Haar hätte mich ein jugendlicher Rollschuhfahrer über den Haufen gerannt. Einige Punks lachten mich aus, und ich verdrückte mich zum Domhotel. Hätte ich es nicht getan! An einem der runden Tische saß (wie sollte es anders sein) meine jüngste Bekanntschaft, der Ewigkeitsvorführer.

Er hatte mich schon gesehen und winkte heftig in meine Richtung. Ich überlegte einen Moment lang, ob ich noch die Flucht ergreifen konnte, aber meine hartnäckige Neugier lockte mich an seinen Tisch.

»Guten Tag«, sagte ich schicksalsergeben und setzte mich. Die Kellnerin kam und nahm meine Bestellung auf. Mein Gegenüber, dessen Namen ich immer noch nicht kannte, begrüßte mich herzlich.

»Schön, daß Sie doch noch gekommen sind. Ich dachte schon, Sie hätten mich vergessen.«

Ich murmelte einige unverständliche Worte und wartete gehorsam auf die Enthüllung seiner Verrücktheit. Zunächst schien er jedoch geneigt, Konversation zu machen.

»Sehen Sie sich diese Kirche an! Ein Meisterwerk der Gotik. Allein die beiden Türme sind schon jeden Pfennig wert, der jemals in den Bau gesteckt wurde.«

»Ja, wunderbar«, antwortete ich.

»Das klingt aber nicht sehr begeistert. Was glauben Sie, wie oft ich schon hinaufgestiegen bin?«

Die Kellnerin brachte mein Bier, so brauchte ich ihm nicht zu antworten. Statt dessen nahm ich einen tiefen Schluck. Er schwieg für einen Moment.

»Ich war lange nicht mehr oben«, stellte ich fest. »Der Aufstieg ist mir zu mühsam, und wenn ich oben bin, schaudere ich schon wieder vor dem Abstieg.«

Das hatte genau den Punkt getroffen. Er sah mich mit herzlicher Anteilnahme an und sagte dann in einem völlig harmlosen Tonfall: »Sehen Sie, das erspare ich mir. Für gewöhnlich springe ich hinab.« Er lächelte freundlich.

Um ein Haar hätte ich das gute Bier auf der hellblauen Tischdecke verschüttet. Ein Irrer! Dem Mann konnte nicht mehr geholfen werden, das war klar. In einer gewaltigen Anstrengung gelang es mir, die Contenance zu bewahren.

»Aha, interessant«, sagte ich. »Und wie machen Sie das? Es kann doch nicht ganz ungefährlich sein, von da oben herabzusegeln, oder?«

»Es ist harmlos«, antwortete er. An seinem gütigen Gesichtsausdruck erkannte ich, daß er mir wohl doch noch seine Lebensgeschichte nachliefern wollte. Und so kam es auch.

»Es begann vor sieben Jahren«, hob er an. Gleich unterbrach er sich wieder. »Ich langweile Sie doch hoffentlich nicht!«

»Nein, nein«, log ich. »Es wird gerade interessant.« »Nun gut. Also, wie ich schon sagte, begann alles vor sieben Jahren. Damals fuhr ich auf der Autobahn von Ahrweiler nach Köln. Sie kennen vielleicht die Ahrtalbrücke, eine landschaftlich reizvolle Strecke. Damals reizte sie mich wohl zu sehr, jedenfalls war ich einen kurzen Augenblick unkonzentriert und nicht ganz bei der Sache. Der Wagen brach aus, und ich krachte durch das Geländer. Sie werden es nicht glauben, aber kurz vor dem Aufschlag war plötzlich alles beim alten. Ich fuhr weiter auf der Straße, als wäre nichts geschehen.« Er hatte recht, ich glaubte es nicht.

»Das verstörte mich eine Zeitlang«, fuhr er fort, »doch bald hatte ich die Erklärung. Nach einem weiteren Experiment - ich raste absichtlich gegen einen Brückenpfeiler - hatte ich den Beweis. Ich erkläre es mir so: Jeder Mensch lebt ewig.«

Er sah mich an, als erwarte er einen Kommentar, aber ich war zu fasziniert von seinem offensichtlichen Wahnsinn, um antworten zu können. Statt dessen starrte ich ihn meinerseits an wie ein exotisches Museumsstück.

»Ich sehe schon, das verwirrt Sie. Ich muß also weiter ausholen. Nach meiner Theorie gibt es eine unendliche Anzahl von parallelen Welten. Mit jedem Mal, wenn sich ein Mensch in tödlicher Gefahr befindet, schafft er ein neues Universum. Sein Bewußtsein rutscht im Reflex einfach in jene Alternative, wo ihm nichts passiert. Es ist alles ganz elementar.«

Sherlock Holmes hätte das nicht schöner sagen können, und ich war gehörig beeindruckt. Wenn nicht ...

»Warum erinnern Sie sich denn an die Todesszenen, wenn es offensichtlich sonst niemand kann?«

»Ganz einfach. Ich bin die berühmte Ausnahme von der Regel.«

Es war tatsächlich einfach. Er war die Ausnahme. Allmählich gruselte es mich, und ich schob unauffällig den Stuhl zurück, um gegebenenfalls rascher die Flucht ergreifen zu können, falls er gewalttätig werden sollte. Gleichzeitig sehnte ich mich nach einem netten weißen Krankenwagen, der den Mann abtransportieren würde. Seine Flucht aus der Klappsmühle mußte doch längst bemerkt worden sein.

»Die Sache ließ mir keine Ruhe«, sagte er versonnen. »Ich probierte einige Todesarten aus, vom simplen Vergiften bis zum komplizierten ostasiatischen Ritual, aber die hohen Gebäude brachten mir die größte Erfüllung. Ich ging auf Reisen. Erst sammelte ich alle deutschen Kathedralen und Hochhäuser, dann die internationalen. Einmal - ich war auf der Fahrt nach Paris und zum Eiffelturm - mußte ich mich unterwegs zweimal aus dem fahrenden Zug stürzen, um meine Gier zu dämpfen. Doch inzwischen bin ich etwas abgeklärter. Ich weiß jetzt, wo mein Platz ist: Hier in meiner Heimatstadt. Ich gehe jeden Nachmittag eine Weile auf der Domplatte spazieren, dann trinke ich hier eine Tasse Tee oder bei kaltem Wetter einen Grog. Anschließend steige ich auf den Turm und springe.«

Er stieg auf den Turm und sprang! Es war wohl doch nicht das Klügste gewesen, auf leeren Magen Bier zu trinken; ich fror mit einemmal und fühlte mich unbehaglich.

»Aber heute lassen Sie es bleiben, wie?« sagte ich mit gespielter Fröhlichkeit und ließ meinen Blick schweifen. Warum war denn kein Polizist in der Nähe! Nur die Punks lümmelten in einiger Entfernung herum und spielten mit ihren Ratten. Mein verrückter Freund sah auf die Uhr und stand auf.

»Wo denken Sie hin? Es wird höchste Zeit, gleich wird der Aufgang geschlossen. Kommen Sie!«

Wir hinterließen ein paar Münzen auf dem Tisch, und er lotste mich zum Dom hinüber. Verzweifelt suchte ich nach Gründen, die ihn von seinem Vorhaben abbringen könnten, doch er tat alles mit einem Lächeln ab.

»Kommen Sie!« wiederholte er, und ich kam. Wir kauften zwei Karten, und mein Begleiter grüßte den Turmwächter wie einen alten Bekannten. Der Aufstieg war mehr als beschwerlich, doch er kletterte mit großen Schritten die abgewetzten Stufen hinauf. Bald war ich außer Atem.

Auf der Plattform japste ich atemlos und hielt mich an der Mauer fest. Er grinste und schüttelte den Kopf.

»Sie haben keine Kondition«, stellte er spöttisch fest. »Ein wenig Waldlauf täte Ihnen ganz gut.«

Wir suchten uns eine stille Ecke, und er deutete mit dem Arm über die Stadt. Durch den feinen Dunst konnte man bis ins Vorgebirge und über das Bergische Land sehen. Als er zum Gitter hinüberging, wollte ich einen letzten Versuch machen, ihn zurückzuhalten, doch ich ließ es bleiben. Mit geübten Griffen hangelte er sich an den schmiedeeisernen Stäben empor und schwang sich hinüber. Er hatte sich das Jackett eingerissen, das kümmerte ihn nicht weiter.

»Bisher war immer alles wieder in Ordnung, wenn ich unten ankam«, erläuterte er.

Der Wind hatte aufgefrischt und fuhr in seine Kleider, als er sich zwischen den Fialen und dem Maßwerk hindurchzwängte. Er winkte mir noch einmal zu, dann stieß er sich kräftig ab. Einen Augenblick schien ihn der Wind zu halten, dann fiel er wie ein Stein. Sein fröhliches Lachen verklang in der Tiefe. Ich schloß die Augen und lehnte mich an den sicheren, kühlen Stein. Nach mehreren Minuten ging ich ans Geländer und schaute hinab. Unten liefen Menschen zusammen, Ameisen gleich, und in der Ferne tönte penetrant ein elektronisches Martinshorn. Ich drehte mich um und begann den Abstieg.

Seit diesem Tag lasse ich mich nicht mehr von jedem hergelaufenen Fremden anquatschen. Überhaupt gehe ich jetzt seltener zu Gartenfesten.