Das Radloch, Hackl-Schorsch
und meine Metzgerin



Der Text stammt etwa von 2002. Zwischenzeitlich hat bei mir ein gewisser Perspektivwechsel hinsichtlich des Fahrradfahrens stattgefunden, aber ich habe das Stück einfach mal so gelassen, wie es war.


Gewöhnliche Menschen setzen sich aufs Fahrrad und radeln dorthin, wohin sie gerade die Pflicht oder das erhoffte Vergnügen zieht. Als Mensch, dem der Sinn fürs Gewöhnliche tagein tagaus seine liebe Begleitung aufnötigt, halte ich es leichtsinnigerweise ebenso. Ich habe mich oft belehren lassen müssen, daß diese Haltung der schieren Ignoranz nicht unähnlich ist, kann aber nicht davon lassen.

Überhaupt beschert Ignoranz mir manche frohe Minute. Wenn ich nicht weiß, welche Bekleidung den erwartungshungrigen Trendfreunden empfohlen wird, welche Getränke und Speisen man als allzeit Gegenwärtiger tunlichst zu sich nimmt, dann weiß ich es zu meinem Besten nicht. Mit vielem „Aha“ und „Soso“ kann ich mir die wunderbaren Schilderungen kenntnisreicherer Freunde zu Gehör bringen lassen und anschließend dem HErrn mit nacktem Arsch auf den Knien danken, daß ich mich noch nicht von den Uneigentlichkeiten des Angesagten habe erniedrigen lassen.

Nun mag mir der eine oder andere aus dem Kreis der geneigten Leserschaft mit bis unter die Fingernägel zorngerötetem Antlitz entgegenhalten, daß dies wohl eine recht arrogante Haltung sei. Ja, antworte ich dann, es ist eine Arroganz, die beinahe so glücklich Momente zeitigt wie die Ignoranz. Das „beinahe“ deshalb, weil Ignoranten den Umlebenden das gute Gefühl eines Wissensvorsprungs geben, Arrogante aber anderen den schmähenden Ruch der Bedeutungsunterlegenheit. Man kann das trotzdem gut finden. Muß man natürlich nicht. Kann man aber.

Das Fahrrad ist angesagt, wenn es Bike genannt wird. Und der Fahrer, wenn er Biking betreibt. Man kann nicht in Alltagsbekleidung biken. Bikte man so, wäre man ein Radfahrer. Und gerade das möchte der Biker nicht sein. Zum vollwertigen Biken gehört eine Bekleidung, die den gar nicht so schmalen Grat vom Seriösen zum Lächerlichen in voller Absicht überschreitet. Und die für ästhetisch Fühlende einem Blick ins Jammertal der hurtig und bereitwillig abgelegten Selbstachtung gleichkommt.

Schon der Berufsschlittenfahrer Georg Hackl hat vor Jahren im „Stern“ bekannt, daß seine Arbeitskleidung ästhetischen Kriterien nicht genüge, es aber auch genügend andere Professionen gebe, die mit gewohnheitsmäßiger Zurschaustellung der primären Geschlechtsmerkmale einhergingen. Ballett-Tänzer, Ringer und eben Radfahrer gehörten dazu. Mir hat das seinerzeit Respekt abgenötigt, sah ich doch vor meinem geistigen Auge den Herrn Hackl eher als jemanden, der im Wirtshaus sein Haxn verzehrt, daneben eine Maß Bier der Marke Hacker-Pschorr genießt und ungern auf seinem Nimbus der frostresistenten rasenden Leberwurst herumhacken läßt. Daß der Mann überhaupt von der Existenz des Balletts ahnt, ist ihm hoch anzurechnen.

Nicht daß ich das Ballett als solches genösse. Es ist eben Musik mit Bewegung, so wie die Oper Musik mit Geschrei ist. Es sei der Leserschaft unbenommen, Opernhäuser und Ballettbühnen mit ihrer vielzahligen Anwesenheit zu überfluten. Ich sehe lieber einen guten Film im Fernsehen. Nicht im Kino, denn es trübt den Filmgenuß, wenn etliche hundert Menschen in lustige Szenen hineinlachen, traurigen Szenen durch hemmungslose Flennerei den ihnen innewohnenden Zauber nehmen oder gar uninteressante Kommentare zum Film geben. Und dann das Popcorn! Nein, so nicht. Aber das Ballett zählt eben zum staubigen Blütenkranz althergekommener Kultur, und daß sich Herr Hackl bemüht, zumindest den Begriff „Ballett“ in seinem aktiven Wortschatz zu halten, beweist ein breitgestreutes Interesse, das über abschüssige Eisbahnen hinausreicht.

Die Verwender eines Bikes haben offenbar eine Vorliebe für Farben mit hohem Aufmerksamkeitswert. Und für Kleidung mit körpernahem Schnitt. Bei Herren, die noch nicht allzu lange dem Bubenalter entwachsen sind, und bei Damen, deren Stern der Körperlichkeit noch nicht vom Steig- zum Sinkflug gewechselt ist, kann dies einen atavistischen erotischen Reiz hervorrufen. Allerdings haben die wenigsten bikenden Menschen ihre Sportart nach der Verträglichkeit mit dem eigenen Körperbilde ausgewählt, so daß viele zweirädrig Dahineilenden ihre Erscheinung nur notdürftig mit dem Gebot der Zweckmäßigkeit entschuldigen können.

Bei aller Skepsis der Mode gegenüber bin ich im übrigen eigentlich fest davon überzeugt, daß seit dem Ablegen der Bärenfelle Kleidung nicht mehr durch Notwendigkeit bestimmt sein darf. Sicher ist der Obdachlose so bekleidet, wie er es ist, weil es ihm die Not gebietet. Doch lasse ich mich nicht davon überzeugen, daß haarige, picklige, faltige oder schwellende Schenkel in augenkrebserzeugend gefärbte Polyamidschläuche gezwängt werden müssen, weil sonst die Haut von der Reibung zerscheuert wird. Was zwingt diese Menschen, so schnell und so weit zu fahren, daß ihre Haut bei weniger schockierender Kostümierung Schaden nähme? Nichts und niemand.

Wiewohl dies ein schlüssiges Verhalten ist. Wie die Metzgersgattin im finalen Tierasyl meines Vertrauens gerne in der allzu knappen Kittelschürze bedient, darunter einen Cup-F-BH und - gottbewahre! - möglicherweise sonst nichts trägt, so herzlich-derb und bar aller Selbstreflektion ist sie auch im Umgang mit der Kundschaft. Überhaupt ist es zwar ein Klischee, daß Metzgersgattinnen schwabbelärmig und lärmend auftreten, einen Mercedes mit Dieselmotor fahren und schon zum Frühstück lampenschirmgroße Schnitzel verzehren; aber ein Klischee, das bedrohlich nahe an der Wahrheit entlangschrammt.

Ein Radfahrerbiker (inspiriert vom ebenso pleonastischen Begriff „Frauenlesben“, mit dem vor allem im universitären Umfeld tätige Gleichstellungsverfechterinnen letzte Zweifel an ihrer prinzipiellen Männerferne auszuräumen suchen), ein Radfahrerbiker also läßt allzu gerne die Umwelt spüren, daß er ihr nicht nur optisch eine Zumutung, sondern auch physisch ein Hindernis sein will. Nicht daß mir an einer Pflichterfüllung hinsichtlich der vielfältigen Verkehrsvorschriften gelegen wäre. Aber vielleicht sollte wenigstens Kants Kategorischer Imperativ, der in Paragraph 1 der Straßenverkehrsordnung sein Gnadenbrot einnimmt, zur geistig-moralischen Stütze der froschbunten Mobilautisten werden. „Sollte, hätte, aber - alles dumm‘ Gelaber“, pflegte unsere exilschlesische Nachbarin zu sagen. So flitzt also der überjahrte halbnackische Biker absichtsvoll vor unseren Füßen und Reifen daher, nichts wahrnehmend, den für brutalstmöglich eingetriebene Steuergelder angelegten Radweg verachtend und ein frühes Ende als blutige Schmierspur knapp hinter der roten Ampel in Kauf nehmend.

Besonders ungezügelten Naturen mag da ein herzhaftes „Radloch!“ entweichen. Nichts läge mir ferner. Wenn sie das In-die-Welt-Geworfensein im Sinne Heideggers durch ein Auf-die-Straße-Gestürztsein im Sinne des Unfallprotokolls überhöhen möchten, sei ihnen das gegönnt. Ein Leben im Dienste der Sportindustrie, ein Denken ohne Gedanken, ein Ende im Getümmel der Notaufnahme. Das ist sicher für hartgesottene Abenteurernaturen ein ebenso überzeugender Reiz wie ihr Anblick für mich eine lang nachwirkende Warnung ist. Nicht vor dem Daherradeln. Auch nicht vor einer Selbsttakelage mit Fetischqualitäten. Aber schon vor der Selbstvergessenheit einer Banalexistenz, die zwischen Kloben, Kurbeln und Gelsattel hektisch strampelnd vor dem Erwachsenwerden flieht.