Lebenskraft



Erstveröffentlichung in: Friedel Wahren (Hg.), Isaac Asimov’s Science Fiction Magazin 28, Heyne, München 1987, ISBN 3-453-31368-2


Das Schiff schwebte lautlos auf die polierte Landeplattform herab. Die warme Abendbrise bewegte die bunten Lampions in den Straßen der Hauptstadt. Von Zeit zu Zeit, wenn ein Luftzug die Flamme gegen das zart gemusterte Papier wehte, ging einer von ihnen in Feuer auf. Weiße Ascheteilchen rieselten herab und kitzelten das blaue Gras. Ein Dutzend Cetaner wartete am Landefeld, als das Sternenschiff aufsetzte. Die Aufmerksamkeit galt jedoch nicht der mattschimmernden Kugel, die soeben sekundenlang in den Farben des Sonnenuntergangs aufglühte. Ihre Fühler waren emporgereckt und zitterten leicht. Die verdrängte Luft, die bei der Landung in alle Richtungen davongeweht wurde, fuhr in die federweichen Auswüchse der Flaumstauden.

Einige Lampions gerieten ins Schwanken und erblühten in einer Lohe hellroten Lichts. Die Asche wirbelte auf die Cetaner herab und traf die erschauernden Fühler. Ein Raunen ging durch die kleine Gruppe. Hunderte fadengleicher Tentakeln führten Aschepartikel zu den Nahrungsöffnungen; schweigend verzehrte die Gemeinde die ehrfurchtgebietende Himmelsnahrung.

Von der Kugel ging nicht die geringste Bewegung aus. Die Cetaner blieben noch eine Weile in stiller Andacht versammelt und glitten dann auseinander. Bald lag der Landeplatz verlassen da. Nacheinander erloschen die Lampionbäume, als die Sonne nicht mehr die nötige Energie für die Gasproduktion lieferte. Die hauchdünnen Kugeln lösten sich von den hohlen Zweigen und sanken in das blaue Gras, wo sie bald zerfielen.




Die aufsteigende Sonne zerriß graue Nebelschwaden, deren Reste zwischen den taufeuchten Grashalmen im Boden versanken. Das Sternenschiff erwachte zum Leben. Rings um die Hauptschleuse fuhren Stahlträger aus der Schiffswand und verbanden sich zu einer filigranartigen Dachkonstruktion. Seidene Stoffbahnen legten sich darüber, so daß ein buntschillerndes Zirkuszelt am Schiff entstand. Eine andere Schleuse spie eine Vielzahl kleiner Reklamebojen aus.

Die Bojen segelten durch die Straßen der Hauptstadt und stimmten ihren glockenhellen Gesang an. Die Cetaner lösten ihre Fühler von den lebensspendenden Drüsen der Nahrungskäfer, und bald zwitscherte die Nachricht der bevorstehenden Attraktion von Hütte zu Hütte. Währenddessen erlahmten die Aktivitäten im Schiff keineswegs. Der Lastkran hob eine mächtige Holzkiste aus dem Laderaum und stellte sie vorsichtig auf der Plattform ab. Arbeitsroboter entfernten sorgfältig die Verpackung und legten den kostbaren Inhalt frei. Nachdem große Bündel von Holzwolle und Styroporplatten fortgebracht waren, stand auf dem polierten Untergrund, nur noch von einer Kunststoffolie verhüllt, ein Klavier. Nein, nicht irgendein Klavier, sondern ein ebenholzschwarzer Flügel, fabrikneu und ohne den kleinsten Kratzer. Die elfenbeinernen Tasten glänzten in der Sonne, die Messingrollen und die Pedale blitzten.

Die Roboter schoben den Flügel langsam in das Vorführungszelt und hoben ihn ehrfürchtig auf das Podium. Es hatte keinen Zweck, ihn jetzt bereits zu stimmen, hatte Leonardo Buckingsteen gesagt, der firmeneigene Vorführer und Konzertmanager.

„Dieses kostspielige Gerät“, hatte er gesagt, „wird von mir persönlich kurz vor der Darbietung endgültig gestimmt. Auch die Cetaner haben Anspruch auf einen unverfälschten Kunstgenuß, und den erhalten sie nur, wenn ich, der Maestro, dieses kostspielige Gerät selbst stimme.“

Die Firma gewährte ihm diesen Wunsch gern, denn er, der Maestro, war nicht nur ein Zauberer auf den schwarzen und weißen Tasten, sondern gleichfalls ein Virtuose des Verkaufs. Er hatte die Firma bereits an vielen Orten erfolgreich vertreten.

Feuchtglänzende Siriusschnecken glitten über die Taste von Stingbay-Pianos, weganische Donnerechsen bearbeiteten mit Vorliebe die Stingbay-Baßoktaven, weißgefiederte Atairschwäne schmiegten ihre weichen Hälse an das firmeneigene hohe C, und das alles hatte Leonardo Buckingsteen, der Maestro, geschafft!




Bis zur Stunde der Vorführung gingen die Cetaner mit feierlichem Ernst ihren Tagesbeschäftigungen nach. Die Flaumstauden wollten abgeerntet sein, die Lampionbäume mußten ihren Dünger erhalten, damit sie genügend Gas hatten, um mit heißen Flammen die harte Schale ihrer Früchte zu sprengen. Der gestrenge Sippenälteste hatte Anspruch darauf, daß ihn die halbwüchsigen Mädchen von den quälenden Fußkrusten befreiten.

Am Mittag teilte der Maestro mit dem Schiffskommandanten eine leichte Mahlzeit. Andächtig tauchten sie Käsewürfel in eine hervorragende Rotweinsauce und schlürften grünen Tee. Der Maestro war freudig erregt, wie immer vor einem Geschäftsabend, und gab erheiternd banale Anekdoten zum besten. Der Kommandant lächelte höflich und dachte sehnsüchtig an die kräftigere Mittagsmahlzeit, die in seiner Privatkabine wartete.

Unterdessen versammelten sich die Cetaner erneut um ihre Nahrungskäfer. Die Männer sogen den Futtersaft aus den Drüsen und vermischten ihn mit ihren Keimzellen. Das gleiche taten die Frauen; anschließend wurden Teile der Nahrung ausgetauscht. Die Vorfreude durchströmte alle Cetaner, auch die halbwüchsigen Nachkommen, die von der Erregung ihrer Eltern angesteckt wurden. Unendlich langsam lösten sich die Fühler von den Nahrungskäfern; die Frauen häkelten letzte Grashalme in ihre Feiertagsroben, die Männer entkrusteten ihre dreißig knüppelförmigen Füße und salbten die Sohlen mit gesegnetem Nektar.

Mehrere Stunden dauerten diese Vorbereitungen. Schließlich versammelten sich die Familien vor ihren Hütten. Die Väter musterten ihren Anhang und zupften die Umhänge zurecht. Die Mütter kümmerten sich um quengelnde Nachkommen, verteilten liebevolle Klapse und kurze Zurechtweisungen.

Der gestrenge Sippenälteste verscheuchte mit einer unwilligen Fühlerbewegung die halbwüchsigen Mädchen und gab das Signal zum Aufbruch. Ungefähr zweihundert Cetaner glitten über die Straßen der Hauptstadt auf den Landeplatz zu. Einem irdischen Beobachter mußten sie wie etwa kniehohe Pastetenformen erscheinen, die am oberen Rand einen Kranz dünner Fühler besaßen, während sie über dreißig Füße in gleitenden Bewegungen dahineilten.




Leonardo Buckingsteen (der Maestro) beendete soeben das Stimmen des kostspieligen Stingbay-Pianos und rückte seine weiße Fliege zurecht. Durch die Zeltöffnung strömten die Zuhörer herein und ließen sich im Halbkreis um das Piano nieder. Die Firma hatte davon abgesehen, Sitzgelegenheiten für die Cetaner anzufertigen, zumal der Betriebsxenologe bestätigte, daß das Sitzen auf dem blanken Boden keinesfalls unter der Würde der Cetaner war. Nur für den gestrengen Sippenältesten lag ein brokatbesetztes Kissen bereit.

Da bisher niemand die Sprache der Cetaner enträtselt hatte (Tau Ceti war einfach kein wichtiger Exportmarkt), hielt der Maestro seine Begrüßungsansprache auf Intergalac. Der gestrenge Sippenälteste, der kein Wort Intergalac verstand, rief dem merkwürdigen terranischen Monster ein obszönes Schimpfwort zu. Mit Ausnahme einiger peinlich berührter Großmütter (die den Sippenältesten schon immer für einen Wüstling gehalten hatten) brach die Menge in schadenfrohen Beifall aus.

Geschmeichelt verbeugte sich der Maestro und nahm an dem kostspieligen Gerät Platz. Er begann mit der Firmenhymne und sprach einige werbende Sätze dazu. Dann verlegte er sich auf schwierigere Kost. Chopins Prélude in e-Moll beschwingte ihn außerordentlich, so daß er sich mit diversen Bach-Toccaten beruhigen mußte. Langsam aber sicher machte sich sein Bewußtsein in Richtung auf die höheren Geistessphären davon, und so bemerkte er nichts von dem, was um ihn herum geschah.

Bei den ersten Akkorden räkelten sich die Cetaner ungeniert auf der Plattform. Die frisch gesalbten Füße drangen durch die blankpolierte Oberfläche; der gestrenge Sippenälteste fluchte leise, weil er zunächst das lästige Kissen entfernen mußte. Dann wiegten sich die Cetaner im Rhythmus der Musik und rieben entspannt ihre Fühler an denen ihrer jeweiligen Ehegatten. Der Älteste hatte die üblichen siebzehn Jungfrauen um sich versammelt. Am höchsten Punkt ihrer Körper taten sich runde Öffnungen auf, aus denen die inzwischen verarbeiteten Nahrungssäfte quollen. Bald bedeckte die schnellhärtende Flüssigkeit die Zuschauer und verfestigte sich zu einer massiven Schicht.

Der Älteste stieß ein lustvolles Ächzen aus. Auf dieses Signal hatten die bedauernswerten Cetaner gewartet, die zur Arbeit an den Bäumen eingeteilt waren. Sie rissen brennende Lampions von den Bäumen und warfen sie mit graziösem Fühlerschwung auf die Zeltbahnen aus chinesischer Seide.

Ein begeistertes Seufzen ging durch die Zuschauerschar, als brennender Stoff herabregnete und die komplizierten chemischen Reaktionen in der gehärteten Schicht auslöste. Der Maestro bemerkte diese Vorgänge erst, als sein nagelneuer Frack sowie das kostspielige Instrument in hellen Flammen standen. Entsetzt sprang er auf, glitt unglücklich aus und krachte in den brennenden Flügel. Ohnmächtig sank er zu Boden und wurde nach wenigen Minuten unter dem zusammenbrechenden Piano begraben. Sein Untergang entbehrte zwar einer gewissen Würde, die Cetaner waren deshalb jedoch nicht ernsthaft schockiert.

Genaugenommen schockierte sie im Moment überhaupt nichts, da ein Zustand grenzenloser Euphorie ihren Sinn für Würde und Anstand zeitweise außer Kraft setzte. Der Schiffskommandant wurde durch den Alarmgong aus seinen trüben Gedanken gerissen. Klassische Musik machte ihn regelmäßig schwermütig, und so hatte er Trost bei einer Flasche Wein und einem herzhaften Keulenstück gesucht. Überrascht schaute er auf den Monitor und erblickte mit Schrecken das flammende Inferno. Er zögerte nicht lange, sondern veranlaßte umgehend einen Alarmstart.

Der Luftzug des startenden Sternenschiffs fachte die Flammen noch einmal an und gab der cetanischen Zeremonie sozusagen den letzten Schliff. Brennende Lampions streuten ihre Asche auf die Bewohner der Hauptstadt.

Der gestrenge Sippenälteste hatte sich als erster aus der noch heißen, inzwischen zäh-klebrigen Masse gewühlt. Erschöpft streifte er die winzigen Embryos ab, die sich überall breitmachten.

„Verdammt noch mal!“ stieß er zufrieden hervor. „Verdammt noch mal, das war wirklich die beste Zeremonie, die ich seit Jahren hatte.“

Ringsum streckten seine Untertanen zitternde Fühler aus der erkaltenden Masse. Die ausgebildeten Mütter trugen die Embryos zu einem Sammelplatz. Der Älteste nickte den anderen Männern gutmütig zu.

„Wenn nicht dieser alberne ... (wieder benutzte er ein obszönes Wort) ... gewesen wäre, dann hätte ich noch eine Idee mehr Spaß dabei gehabt. Dieses widerliche Geklimper hat mich irgendwie, nun, sagen wir schwermütig gemacht.“

Die Männer zwitscherten beifällig. Unter dem Licht der sinkenden Sonne wanderten die Bewohner der Hauptstadt zu ihren Hütten. Die Frauen waren mit den neuen Nachkommen beschäftigt, während die Männer sich noch zu einem Abendtrunk an den öffentlichen Käfern versammelten. Gewöhnlich wurden nach der Zeremonie derbe Witze erzählt; dieser Tag bildete dabei keine Ausnahme.




Etliche tausend Kilometer entfernt grübelte ein bestürzter Kommandant immer noch nach dem tieferen Sinn der jüngsten Ereignisse. Nach den Computeranalysen hatte dort unten so etwas wie Gruppensex stattgefunden.

Beim Gedanken an das unerwartete Ende des Maestros schüttelte der Kommandant bedauernd den Kopf und schenkte sich von dem Wein nach. Nun, eigentlich hatte er seine Musik nie gemocht, sie machte ihn irgendwie außerordentlich schwermütig.